Seit 2014 hörten die Kampfhandlungen im Donbas nie wirklich auf. Unterdessen wurden in den letzten Tagen aktiv Informationen über eine mögliche großangelegte Invasion russischer Truppen auf das Territorium der Ukraine verbreitet. Der Grund dafür ist, dass Russland Tausende Militärangehörige auf seinen westlichen Regionen und in der vor ihm besetzten Krym ansammelte.

Ist dies die Vorbereitung auf eine Invasion?

Niemand, außer Putins Generäle, kennt die wahren Pläne des Kremls. Zugleich warnen aber einflussreiche westliche Medien wie die New York Times und Bloomberg unter Berufung auf ihre Geheimdienstquellen vor einem möglichen winterlichen Vorstoß seitens Russland. Derzeit sind nach Angaben des US-Geheimdienstes und der ukrainischen Militärführung etwa 92.000 russische Soldaten und Offiziere im Norden und Osten der Ukraine stationiert. Auf der Krym und in der Nähe der Stadt Jelnja, die nahe der russischen Grenze zu Belarus liegt, ist eine Aufstockung der Truppen zu verzeichnen. Darüber hinaus werden in Russland Zehntausende Reservisten mobilisiert, mit der Aufgabe, das Besatzungsregime in den besetzten Gebieten zu unterstützen.

US-Außenminister Anthony Blinken erklärte sogar, dass es angesichts der jüngsten Aufstockung russischer Truppen möglicherweise um die Vorbereitung einer Invasion handele.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ermahnte Moskau auf der Pressekonferenz in Brüssel, die dem Treffen der Außenminister der NATO in Riga vorausging.

„Wir sind sicherlich besorgt darüber, was wir in der Ukraine und um sie herum sehen“, sagte Stoltenberg. „Die NATO beobachtet sehr genau die Situation in der Ukraine und gibt die Information an ihre Verbündeten weiter. Es gibt jetzt keine Gewissheit über die Absichten Moskaus. Aber die Tatsache, dass russische Truppen weiter aufgestockt werden und dass Russland die Ukraine schon einmal angegriffen hat, ist Anlass zur Sorge.“

„Russland besetzt weiterhin illegal die Krym, destabilisiert die Ostukraine und führt weiter Cyberangriffe gegen das Land. All dies seien Gründe, sehr besorgt zu sein. Die Regierung in Moskau muss eine weitere Eskalation verhindern. Andernfalls wird es zu hohen Kosten für Russland führen“, so Stoltenberg.

Der Leiter des Hauptnachrichtendienstes des Verteidigungsministeriums der Ukraine Kyrylo Budanow nannte sogar den Zeitpunkt einer möglichen Invasion. Seiner Information zufolge handelt es sich um Januar/Februar 2022.

Stattdessen beschuldigt Russland alle außer sich selbst für alles, was passiert. Putins Sprecher Dmitri Peskow versucht die Welt davon zu überzeugen, dass es die Ukraine sei, die aggressive Aktionen gegen Donbas, die Volksrepubliken Donezk und Luhansk plant sowie, dass Militärausbilder aus den NATO-Staaten in der Ukraine tätig sind. Abgesehen von diesen Worten kann der Kreml jedoch keine anderen Beweise für die Wahrheit dieser Aussagen erbringen.

Doch die Truppenansammlung nahe der ukrainischen Grenze ist nicht der einzige Grund zur Sorge. In den vergangenen Monaten haben der Kremlführer und mehrere andere hochrangige russische Funktionäre zahlreiche Artikel veröffentlicht, in denen sie sich sehr aggressiv gegen die Ukraine aussprechen. In diesen Artikeln stellten sie das Existenzrecht der Ukraine als Staat infrage. Sie lehnten auch ab, die demokratisch gewählte ukrainische Regierung anzuerkennen. Insbesondere Putins Vertrauter und Sekretär des russischen Sicherheitsrats Nikolai Patruschew äußerte die Meinung, dass die Ukraine vor einem „afghanischen Szenario“ steht. Er wies damit auf die Gefahr des Landeszerfalls hin.

Putin setzt die für Russland vorteilhaften Lösungen durch

Der Direktor des Instituts für Weltpolitik Yewhen Magda unterstreicht, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine bereits acht Jahren andauere und dadurch mehr als 14.000 Menschen zum Opfer fielen.

„Leider lassen die Kämpfe im Donbas seit 2014 nicht nach. Der Waffenstillstand ist sehr formell. Daher kann ich sagen, dass es jetzt eher darum geht, das Ausmaß der Invasion auszuweiten. Gerade über so ein Szenario schrieben die westlichen Massenmedien bereits seit Anfang November. Der offizielle Kyjiw teilt auch diese Ansicht. Gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, dass die hybride Kriegsführung nicht nur Kampfhandlungen bedeutet, sondern auch wirtschaftliche und informationelle Faktoren aufweist. Russlands „Informationstruppen“ sind sehr gut ausgebildet und weltweit stationiert, die meisten von ihnen befinden sich in Europa. Auf unterschiedlichster Weise versucht Russland, durch Erpressungs- und Druckmittel die Unabhängigkeit der Ukraine auf der internationalen Bühne zu destruieren“, betonte Yewhen Magda.

Auch ist er der Meinung, dass Russland keine Möglichkeit habe, solche große ukrainische Territorien zu versorgen. Ihm zufolge will Russland die ukrainische Militärinfrastruktur kaltstellen, dafür wären Luftangriffe das beste Format. Es ist schwierig, die Widerstandseffizienz vorherzusagen, da die Ukraine nie die Chance hatte, die Wirksamkeit ihrer Luftverteidigung zu testen. Das Land kann auf die Hilfe westlicher Verbündeten hoffen, jedoch muss man wohl verstehen, dass es – selbst wenn der Westen die Ukraine technisch unterstützen wird – unmöglich ist, eine große Anzahl von Fliegerabwehranlagen prompt in Arbeitsmodus zu bringen.

Laut Yewhen Magda weisen diese Aktivitäten mehrere Ziele Putins auf. „Ich glaube, er möchte die Situation eskalieren lassen, um die für Russland notwendigen und nützlichen Lösungen durchzusetzen: Es geht um die Bereitschaft der Ukraine, sich mit den Rebellen an den gemeinsamen Verhandlungstisch zu setzen, um den Start von Nord Stream 2 sowie um die Anerkennung der Parität Wladimir Putins mit den G7 Staats- und Regierungschefs, zum Beispiel in Form eines informellen Gipfels des UN-Sicherheitsrates“, so Magda.

Der Wunsch von Russland-Regime, Europa zu zwingen, dem Start von Nord Stream 2 zuzustimmen, ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Sobald Russland auch nur eine stark getarnte Militäroperation startet, wird dies das Ende von Nord Stream 2 bedeuten. Außerdem hat Russland das Überraschungsmoment bereits verloren. Denn die Welt ist schon über eine mögliche militärische Eskalation seitens des Kremls informiert.

Gleichzeitig macht Yewhen Magda darauf aufmerksam, dass sich häufig amerikanische Raketenzerstörer im Schwarzen Meer aufhalten. Sie waren dort im Frühjahr und sie sind dort auch jetzt. Die Schiffe haben ein sehr starkes Luftverteidigungssystem, das das Territorium der Ukraine, wenn nicht vollständig, so doch zum größten Teil abdecken kann. Das ist ein wichtiger Faktor, denn es macht einen Unterschied aus, ob sich die Piloten sicher fühlen oder ob ihr Flugzeug von einer Rakete getroffen werden kann.

Man soll auch nicht vergessen, dass die USA im Falle einer offenen Aggression Sanktionen über Russland verhängen kann. Auch kann die Ukraine militärische und technische Unterstützung von den USA bekommen, aber die Letzteren werden nicht für die Ukraine kämpfen. Europa kommt in dieser Situation auch nicht zu kurz. Dennoch zögert leider die EU, tatkräftig auf Russlands offensichtliche Beteiligung an der Migrantenkrise an der Grenze zwischen Belarus und Polen zu reagieren.

Es ist klar, dass die Europäische Union mit ihren Sanktionsmöglichkeiten gegen Russland schon ohnehin an die gläserne Decke stoßt, welche nur durch eine offene Invasion zerstört werden kann. Ein klares politisches Statement des EU-Rates, dass Nord Stream 2 ausschließlich nach den Normen des Dritten Energiepakets betrieben werden kann, könnte eine kalte Dusche für den Kreml sein. Im Falle einer realen Invasion könnte der Westen Russland aus dem SWIFT-Zahlungssystem ausschließen sowie den Luftraum für Militärflugzeuge sperren.

Stattdessen will Russland seinen Einfluss in der Ukraine erhöhen und nicht nur über [die von ihr geschleusten] Agenten handeln, von denen sich viele in der Ukraine befinden. Schließlich betrachtet der Kreml die Besetzung eines Teils des Donbases, also eines relativ kleinen Territoriums der Ukraine, als ein Einflussmittel auf das ganze Land, insbesondere auf seine Außenpolitik und den Beitritt zur NATO.

Man kann davon ausgehen, dass Putin Bedenken hat, ob dieses Ziel erreichbar sei. Russland wird einen Teil der Ukraine kontrollieren, aber den Hauptplan – maximale Kontrolle über das ganze Land – nicht umsetzen können.

Somit ist eine umfassende russische Invasion der Ukraine möglich, aber eher unwahrscheinlich. Davon gehen die meisten Analytiker aus. Gleichzeitig darf man jedoch nicht vergessen, dass der Kreml – sobald er etwas vorhat – mehrere Operationspläne hat, um sein Ziel zu erreichen. Solche Pläne des Kremls müssen systematisch und aggressiv mit allen möglichen Mitteln bekämpft werden.

Kateryna Bratko, FREIE JOURNALISTIN, BEOBACHTERIN, INTERVIEWERIN MIT ÜBER 15 JAHREN ERFAHRUNG IM JOURNALISMUS. KOMPETENZBEREICH: INTERVIEWS MIT POLITIKERN, HOCHRANGIGEN BEAMTEN, MEINUNGSLEITERN, EXPERTEN, SPORTLERN

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