Unter den Sicherheits-, Politik- und Wirtschaftsexperten (insbesondere zu Energiefragen) besteht kein Zweifel, dass Russlands jüngste Aufstockung der Streitkräfte an der Grenze zur Ukraine darauf abzielt, die finstere Agenda des Kremls voranzutreiben. Die Meinungsverschiedenheiten hängen von Ausmaß, Mitteln, Zeit und Geographie ab. Es ist Putins klare Absicht, zuzuschlagen, wenn die internationale Gemeinschaft und die Ukraine selbst am verwundbarsten und am wenigsten zum Widerstand bereit sind. Zu welchem Zeitpunkt dieser „perfekte Sturm“ jedoch seinen Höhepunkt erreicht, damit Russland in die Offensive gehen kann, hängt von vielen Faktoren ab. Im Folgenden ist ein kurzer Überblick über wichtige nationale und internationale Entwicklungen, die entweder Putin freie Hände lassen werden oder aber seinen Blitzkrieg zumindest auf absehbare Zeit vereiteln könnten.
Entwicklung der Lage in der Ukraine und externe Unterstützung
Für die ukrainische Wirtschaft ist es schwierig, den Kopf über Wasser zu halten und den Bürgern zu helfen, die wachsende Wirtschaftskrise zu überstehen. Die Notwendigkeit, Ressourcen für das Militär ausgeben sowie die politische Instabilität zuzüglich zu den bereits vorhandenen Problemen im Gesundheitswesen führen zur Verarmung, Orientierungslosigkeit und wachsenden Zukunftsängsten.
Offensichtlich ist Russland schuld, wenn auch nicht für den Anfang all dieser Prozesse, so doch zumindest daran, dass es an den Schwachstellen Druck ausübt und den Ernst der Lage mindert, was die Lage noch weiter verschlechtert. Die intern geschwächte Ukraine hat weniger Chancen, einem externen Feind zu widerstehen. Aus diesem Grund bemüht sich die ukrainische Regierung aktiv um Zusicherungen umfassender Hilfe durch ausländische Staaten und internationale Organisationen. Doch anstatt die Position der Ukraine zu stärken und dadurch Russland einzudämmen, bewirkt es genau das Gegenteil: Putin hat kürzlich die militärische Präsenz der NATO an seiner westlichen Grenze und die Ausrüstung ukrainischer Streitkräfte für inakzeptabel erklärt, weil er darin die eigentliche ukrainische militärische Integration in die Strukturen der Allianz sieht.
Eine solche knallharte Rhetorik hält den Westen davon ab, starke und konkrete Verpflichtungen einzugehen, weil er sich nicht – sogar indirekt, nur indem er die Ukraine ausrüstet – mit Russland anlegen möchte. Die Erklärung des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, die Allianz wäre nicht verpflichtet, die Ukraine zu verteidigen, ist eine von mehreren Erklärungen, die die obige Meinung untermauert. Demzufolge geben die internen Ereignisse in der Ukraine sowie die unsichere Unterstützung durch internationale Partner die Bühne frei für Moskaus trotziges Verhalten.
Die Saga um Nord Stream 2 nähert sich dem Ende (bzw. der Inbetriebnahme) zu
Die Nord Stream 2 Pipeline ist sicherlich einer der wichtigsten Faktoren, wenn nicht der wichtigste, der Putins Invasionspläne beeinflusst. Das Hauptziel der Pipeline war es, die Ukraine beim Gastransit in die EU trotz dessen wirtschaftlichen und logistischen Ineffizienz zu umgehen. Der Bau der Pipeline wurde September 2021 abgeschlossen, und wenn er von den EU-Aufsichtsbehörden zertifiziert wird, so kann dies für Kyjiw nicht nur Milliardenverluste verursachen, sondern auch den letzten „Stolperstein“ für Moskau beim Angriff auf die Ukraine beseitigen. Die Hoffnung, dass die internationale Gemeinschaft dies nicht zulässt, ist noch nicht erloschen, aber sie schwindet rasant mit jedem Tag.
Die Biden-Regierung, die ihre Arbeit aufnahm, als Nord Stream 2 zu 95 % fertig war, bemühte sich zuerst, dieses Projekt zu stoppen. Jetzt aber wird versucht, die Risiken zu mindern, falls Putin weiterhin Gaslieferungen als Waffen einsetzt. Nun liegt die Entscheidung beim Kongress, der als Ergänzung zum jährlichen National Defense Permit Act erneut Sanktionen eingebrachte. Werden diese abgeschafft, liegen alle Einflusshebel zu dieser Sachlage wieder in Europa.
In Deutschland arbeitete die scheidende Regierung Merkels an der Umsetzung von Nord Stream 2, während die bereits ernannte Außenministerin Annalena Baerbock signalisierte, ihr Resort werde den Forderungen Russlands nicht nachkommen. Zu diesem Thema wurde jedoch noch keine Entscheidung getroffen, vieles hängt von der innenpolitischen Dynamik Deutschlands sowie Russlands Verpflichtungen zur Einhaltung des EU-Kartellrechts und der regulatorischen Beschränkungen ab.
Sollte die EU-Regulierungsbehörde keine Zugeständnisse machen und der Kreml wiederum nicht genug tun für die Entbündelung von Gazprom (Trennung zwischen dem Eigentümer der Pipeline und dem Eigentümer des dort transportierten Gases), können wir über eine vorübergehende Abschreckung der russischen Offensive sprechen. Sollte aber Putin heimtückisch Wege finden, die Hindernisse für die Zertifizierung von Nord Stream 2 zu überwinden, werden Warnungen über Moskaus Muskelspiel sich nicht mehr auf politische Bedrohungen beschränken, sondern höchstwahrscheinlich zu einer militärischen Intervention eskalieren.
Neue Welle der Migrationskrise und die langsame „Anschluß“ von Belarus durch Russland
Der selbsternannte Präsident von Belarus Lukaschenko bereitet der EU schon seit Jahren Kopfschmerzen. Seine jüngste – von Russland unterstützte – „Begleitung“ der auf dem Luftweg nach Belarus angekommenen Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten direkt an die Landaußengrenzen der EU stellt für die Letztere neue Gefahren dar. Wie die Erfahrung zeigt, haben die EU-Mitgliedstaaten noch kein gemeinsames Verständnis darüber erreichen können, wie mit illegalen Migranten, Flüchtlingen, Einwanderern und Asylsuchenden umzugehen ist und wie die Migrationslasten gerecht, maßvoll und effizient zwischen den Staaten zu verteilen sind. Daher führt selbst eine relativ geringe Zahl von Migranten (im Vergleich zu 2014-2015) zu starken Spannungen nicht nur zwischen den involvierten Ländern, sondern auch in den restlichen EU-Staaten.
Erstens wirken solche Widersprüche innerhalb der EU sehr ablenkend für sie selbst, zweitens deutet es auf die fehlende Verbundenheit innerhalb der EU hin, was Putin in die Hände spielt, und drittens erlaubt es somit Lukaschenko, sein echtes politisches Engagement schamlos zu zeigen. Lange Zeit schien er sich von äußeren Einflüssen ferngehalten zu haben, doch nun wird er allmählich zu einer Marionette Putins und stimmt der Annexion von Belarus durch Russland zu. Als Nachweis dazu dienen die zahlreichen bilateralen Militärübungen und die Zusammenführung des Potentials beider Streitkräfte.
Darüber hinaus hat Lukaschenko kürzlich die de facto und de jure Anerkennung der Krym als russisches Territorium angekündigt und deutlich gemacht, dass er in einem möglichen Krieg gegen die Ukraine auf russischer Seite kämpfen werde. Alle diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass Russland mit Hilfe von Belarus eine zweite Front im Kampf gegen die Ukraine eröffnen kann, während die EU aus letzter Kraft ihr Bestes versucht, ihre eigenen Aktionen gegen die wiederkehrenden Migrantenprobleme zu bündeln.
Die US-Außenpolitik schwächelt, was Russland ausnutzt
Vorbei sind die Zeiten, in denen die internationale Gemeinschaft Champagner anhob, um Bidens Wahl zum Präsidenten zu feiern. Von Anfang an war klar, dass die Anzahl, das Ausmaß und die geographische Vielfalt der Probleme es den Vereinigten Staaten nicht erlauben, diese angemessen zu überwinden. Bidens Bereitschaft, „beabsichtigt feindliche Beziehungen“ mit Putin aufzubauen, um den Weg für die Abwehr der geopolitischen Bedrohungen seitens China zu ebnen, war nicht nur voreilig, sondern völlig falsch. Seine weiteren Fehleinschätzungen über den Truppenabzug aus Afghanistan, Versuche, die Beziehungen zum Iran wiederherzustellen, um ihn an der Entwicklung von Atomwaffen zu hindern, und eine allzu ungesunde Besessenheit von der Zweistaatenlösung des Israelisch-Palästinensischen Konflikts – all das schafft die Voraussetzungen für Putin, seine Hände zu reiben. Für Moskau sagen Taten mehr als Worte.
Weder die Entsendung von CIA-Direktor Burns nach Moskau, um Russland vor einer Invasion in die Ukraine zu warnen, noch die öffentlichen Äußerungen von Außenminister Blinken am Rande des NATO-Gipfels erfüllten bisher ihren Zweck. Im Gegenteil, die Planung des zweiten amerikanisch-russischen Gipfels dürfte Putin als „grünes Licht“ dienen, um seine Agenda inmitten der Äußerungen „ernster Besorgnis“ des Westens und insbesondere der USA weiter umzusetzen. Wenn es die USA ernst mit der Abschreckung Russlands meint, müssen sie präventiv handeln und sich nicht nur auf „harte Gespräche“ mit Russlands autoritären Machthaber beschränken, während der Letztere in aller Öffentlichkeit einen groß angelegten Angriff plant.
Andere internationale Entwicklungen geben Anlass zu ernster Besorgnis
Wäre es nur möglich, die Herausforderungen und Bedrohungen zu begrenzen, indem man ihre Anzahl und ihr Ausmaß reduziert. Aber leider ist dies nicht der Fall. China droht, Taiwan einzunehmen (wo übrigens die meisten Halbleiter für die ganze Welt hergestellt werden); Israel bereitet sich darauf vor, entweder präventiv gegen seine Feinde vorzugehen oder zumindest sich selbst zu verteidigen und Friedensstörer aus dem Nahen Osten und anderen Ländern abzuwehren; es droht die Destabilisierung einer zunehmenden Zahl von Staaten im Nahen Osten, Nordafrika, Lateinamerika und so weiter. Zusammengenommen macht es die Situation weltweit gefährlich. Und obwohl kein einzelnes Vorkommen ein ausreichender Vorwand für eine russische Invasion in die Ukraine wäre, kann eine gleichzeitige Kombination von zumindest ein paar katastrophalen Ereignissen den kollektiven Westen „lähmen“.
Die einzige Schlussfolgerung ist, dass jede sich verschlechternde Situation Putin in die Hände spielt und es ihm ermöglicht, politisch, wirtschaftlich und militärisch voranzukommen und die westlichen Demokratien zusammen mit der Ukraine zu untergraben. Um das Schlimmste zu verhindern, muss man handeln, bevor es nicht zu spät ist – Nord Stream 2 stoppen, der Ukraine neben zusätzlichen finanziellen und technischen Mitteln auch präventive Militärunterstützung zur Verfügung stellen sowie bei anderen Krisen – zumindest in der EU-Nachbarschaft – stärker vorzugehen, um eine Möglichkeit des russischen Angriffs aus mehreren Flanken auszuschließen.
Maryna Yaroschewytsch, Maryna Yaroshevych, Mitglied von Promote Ukraine, Redakteurin von Brussels Ukraїna Review