Russland muss mit echten Konsequenzen rechnen, wenn es seine Truppen gegen die Ukraine richtet. Die Konzentration der russischen Armee an der Grenze bereitet der internationalen Gemeinschaft und der NATO sehr ernste Besorgnis. Dies ist bereits die zweite gravierende und ungewöhnliche Konzentration russischer Truppen in der Region in diesem Jahr. Wir sehen russische Panzer, Artillerieeinheiten, unbemannte Kampfflugzeuge und elektronische Waffensysteme sowie zahlreiche kampfbereite Einheiten. Die derzeitige Konzentration russischer Truppen ähnelt der im April, als Russland etwa 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine ansammelte.

Die Ukraine ist kein NATO-Mitglied und unterliegt keinem kollektiven Verteidigungsabkommen, dennoch muss das Bündnis an Russland ein klares Signal senden, dass die NATO hier ist, um alle Verbündeten zu schützen und zu verteidigen. Es gibt auch starke Botschaften, die die Ukraine selbst an Russland senden kann.

Im Februar 2014 “annektierte” Russland die ukrainische Halbinsel Krym. Seit April 2014 besetzen die von Moskau unterstützten Rebellen, Sabotageagenten und Soldaten der regulären russischen Einheiten große Gebiete in den Oblasten Luhansk und Donezk in der Ostukraine. Mehr als 13.000 Menschen sind während des Konfliktes in der Ostukraine umgekommen, fast drei Millionen wurden als Flüchtlinge registriert.

Um Russland für die Annexion der Krym und die Destabilisierung der Ostukraine zu bestrafen, haben die EU, die USA und andere westliche Länder Sanktionen gegen viele russische Beamte und Kreml-nahe Personen sowie gegen Russlands Finanz-, Verteidigungs-, Energie- und andere Sektoren verhängt.

Von den ersten Monaten des Konflikts an, als sich die russische Invasion der Halbinsel Krym auch auf das ukrainische Festland ausbreitete, war sich die internationale Gemeinschaft der Rolle des Kremls bewusst und verhängte Sanktionen gegen Moskau. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat bereits 2016 Russlands Beteiligung an den Kämpfen in der Ostukraine anerkannt, woraufhin Russland aus dem Internationalen Strafgerichtshof ausgetreten ist. Laut Dmitri Peskow (Pressesprecher des russischen Präsidenten) sei selbst ein einfacher Dialog zwischen russischen und ukrainischen Staatsbeamten problematisch, wenn beide Seiten zum Wesen des Konflikts so unterschiedliche Positionen aufweisen. Es sieht so aus, dass Putin überhaupt nicht daran interessiert ist, einen Kompromiss zu finden und das Problem mit der Ukraine zu lösen, sondern mit allen Mitteln versucht, die Ukraine sich zu unterordnen. Dies wird durch die Kommentare Putins selbst und anderer führender russischer Funktionäre eindeutig bestätigt.

Wie schützt man sich vor jemandem, der sich weigert, den Frieden anzuerkennen? Viele Experten und Analytiker sind der Meinung, Putin wolle mit der aktuellen Eskalation des Konflikts alle möglichen Optionen in seinen Konfrontationsspielen mit dem Westen ausprobieren. Dazu gehört u.a. ein totaler Krieg in Europa. Welche Gegenreaktionen hat denn die Ukraine und Europa selbst? Folgende Antworten wären möglich: „Nichts tun“, „Russlands Rechte gegenüber seinen Nachbarn respektieren“, „gravierende Konsequenzen für Russland zeigen und die Sanktionen gegen Moskau verschärfen“ und – was in jüngster Zeit oft vorkommt – „schnelle Eingreiftruppe der NATO einsetzen, sollte Russland eine Militärinvasion gegen die Ukraine starten“.

Alle diese Möglichkeiten bedeuten im Grunde, sich nichtstuend zurücklehnen oder ruhig und gelassen das weitere Verhalten Russlands abwarten. Ist es nicht zu unverantwortlich, wenn es um die Staatlichkeit der Ukraine, die regionale Sicherheit und den Frieden in Europa geht? Wir werden jetzt nicht über einen revolutionären Aktionsplan sprechen, sondern uns theoretische Möglichkeiten vorstellen, die es der Ukraine zumindest konzeptionell und strategisch ermöglichen können, mit „Gegenoptionen“ für Russland Schritt zu halten.

Seien wir ehrlich, das russische Staatsoberhaupt kann sicher sein, dass die USA der einzige zuverlässigste Akteur mit ernsthaften Kampffähigkeiten in Europa ist, aber die Versuchung ist allzu groß, diese US-Regierung aufgrund aktueller Gegebenheiten herauszufordern, insbesondere, wenn man die relativen Erfolge im Konflikt mit Georgien (2008) und alles, was seit 2014 in der Ukraine passiert, in Betracht zieht.

Alle Handlungen, worauf europäische und transatlantische Bündnisse sofort mit „unvermeidlicher Reaktion“ und „verheerenden Folgen“ für Russland zu reagieren versprachen, werden von Moskau bereits brilliant ausgeführt. Im Gegenzug erhält Putin lediglich nur einige Wirtschaftssanktionen und „harte Gespräche“ von führenden westlichen Staats- und Regierungschefs, die aber gleichzeitig grundlegende Gasabkommen und andere für Westeuropa wichtige Verträge mit Russland verhandeln. Dies veranlasst Putin zu der Annahme, dass es in Wirklichkeit keine Konsequenzen, keinen echten und tatkräftigen Widerstand geben wird, um seine Aggression zu stoppen.

Die europäischen und NATO-Streitkräfte sind viel besser ausgerüstet als das russische Militär. Die europäischen und amerikanischen Schwachstellen, wie z.B. politische Differenzen, wenig zentralisierte und eher fragmentierte Führung und Kontrolle sowie die über ideologische Werte stehenden wirtschaftlichen Interessen, gehören zu der Liste von Faktoren, die es Putin erlauben, die zweite und dritte Phase seiner aggressiven Politik in Osteuropa zu verfolgen. Es ist wirklich schwer zu sagen, wann und wo sein Appetit nachlassen wird. Ein großer Krieg in der Ukraine wäre etwas, an dem die Generäle der russischen Armee sehr interessiert wären, um ihre Kampferfahrung zu erhöhen, und die ukrainische Armee ist angesichts der Operationen in der Ostukraine ein ebenbürtiger Gegner.

Fragen wir uns ob es denn möglich ist, Russland so etwas wie eine Idee zu geben, die es dazu zwingt, die Drohungen einer militärischen Invasion der Ukraine ernsthaft zu überdenken oder ganz aufzugeben? Man soll proaktiv die Kampfstärke der ukrainischen Nation zeigen, die zu allem bereit ist und alles tun wird, um ihr Land zu verteidigen. Die Ukraine muss eine offensichtliche Bereitschaft, Zusammenhalt und Handlungsfähigkeit zeigen – nicht nur als Reaktion auf bestimmte Geschehnisse, sondern auch mehr proaktiv im Denken und Handeln sein, als von ihr erwartet wird.

In dieser Hinsicht ist eines der besten Beispiele der jüngeren Geschichte der Staat Israel, dessen Heldentum und Führung der Nation im Sechstagekrieg 1967 eine solide Grundlage für die israelische Staatlichkeit bildeten. Ein Präventivschlag bedeutet in den internationalen Beziehungen eine militärische Aktion eines Landes als Reaktion auf eine Bedrohung durch ein anderes Land, um das Letztere davon abzuhalten, seine Bedrohung im Gang zu setzen. Vor dem Militärangriff 1967 erklärte Ägypten eine Politik der Feindseligkeit gegenüber Israel, brachte seine Streitkräfte in maximale Kampfbereitschaft, verdrängte die speziellen UN-Einsatzkräfte aus dem Grenzgebiet Sinai, verstärkte seine Truppen an der Grenze zu Israel, kündigte die Sperrung der Straße von Tirana für israelische Schiffe an und schloss Abkommen über gegenseitige Unterstützung mit dem Irak, Jordanien und Syrien.

Theoretisch und praktisch lassen sich viele Parallelen ziehen, die mit dem russisch-ukrainischen Konflikt vergleichbar sind. Im Fall der Ukraine ist das Konzept des Präventivkrieges und deren Inhalt weniger ein dringender Aktionsplan, sondern eine Neuordnung der Weltanschauung. In Bezug auf eine Militäroperation muss etwas nur angedeutet und nicht tatsächlich getan werden, und etwas muss wirklich getan werden, um die Widerstandsfähigkeit der Ukraine zu stärken.

Der aktuelle Druck Russlands auf die Ukraine erinnerte mich an ein Gespräch vor einigen Jahren in Washington, DC, als ich mit einem Vertreter der Think Tank Community diskutierte, welche Optionen es für die baltischen Staaten und Lettland im Falle einer Wehrentwicklung des russischen Militärs und der unmittelbaren Bedrohung unserer nationalen Sicherheit gäbe, angesichts der Tatsache, dass alle Truppen in Pskow, also im westlichen Militärbezirk Russlands, stationiert sind. „Warum nicht einen Präventivschlag gegen die Einheiten in Pskow machen, wenn man sieht, dass ein baldmöglicher Angriff bevorsteht?“, wurde ich gefragt. Darauf musste ich nur lächeln. Dies ist ein sehr extremer Ansatz, angesichts der Größe der lettischen Armee oder aller baltischen Armeen zusammen. Aus Sicht des Militäreinsatzes sieht es derzeit etwas unrealistisch aus, aber das Gesamtkonzept und die Denkweise haben etwas Überzeugendes, wenn man sich an eine solche Strategie wagt.

Dies führt zu einer anderen Denkweise, und sobald man anfängt, proaktiv zu handeln, ist man schnell weit weg von der „Falle“, die dein Gegner dir stellen möchte. Und so tat der kleine und junge Staat Israel im Jahr 1967, als er die eher „absurde“ Idee einer Militäroperation gegen Ägypten umsetzte. Israel erkannte die unmittelbare Bedrohung der nationalen Sicherheit anhand verfügbarer Beweise und versetzte den ersten Schlag gegen einen viel stärkeren Gegner und alle seine Verbündeten. Es bedeutete bei weitem nicht, dass Israels Vorhaben auf jeden Fall erfolgreich sein wird, aber es war ein klares Signal an die Welt, dass diese Nation alles tun würde, um zu überleben.

In der modernen Ukraine und in Anbetracht der aktuellen Situation, ist das Konzept der Prävention breiter zu betrachten. Die ukrainische Militärstrategie, operative Planung, Militärführung sowie die politische Führung und gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit müssen allem vorankommen, was russische Strategen als eine Schwachstelle betrachten. Europa und die Vereinigten Staaten sind bereit, mit Rat und notwendigen Ressourcen zu unterstützen. Sollte es zu Kriegsaktionen kommen, muss Russland den Krieg auf seinem Territorium als eine realistische Option betrachten, wenn es eine umfassende Militärinvasion in der Ukraine startet.

Olevs Nikers, Baltische Sicherheitsstiftung, Präsident

 

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