Chaos als eine obligatorische Voraussetzung für Aggression
Seit der russischen Besetzung der Krym und Teilen des Donbas gab es den letzten Jahren viele Informationswellen über die zahlreiche Aufstockung des russischen Militärs an den ukrainischen Grenzen. Diese Informationen werden von Zeit zu Zeit ans Tageslicht gebracht, wonach sie wieder im globalen Informationsraum verschwinden. Manchmal basieren sie auf realen Bedrohungen seitens Russland, manchmal erweisen sie sich lediglich als gezielte informationelle und psychologische Eingriffe, um eine instabile Situation in der Ukraine zu schaffen und die europäische und euro-atlantische Solidarität ins Schwanken zu bringen.
Doch im Gegensatz zu den schwankenden Informationswellen ist die reale militärische Bedrohung durch Russland seit 2014 konstant hoch geblieben. Darüber hinaus hat der Kreml seit 2017, nachdem es neue Militäreinheiten um die Ukraine herum aufgestellt hatte – eine Panzerarmee in der Nähe von Moskau, eine allgemeine Militärarmee in der Nähe von Woronesch und eine allgemeine Militärarmee mit Hauptquartier in Nowotscherkask – genügend Truppen vorbereitet, um eine strategische Offensive gegen die Ukraine sowie gegen Polen und die baltischen Staaten durchzuführen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Armee in Nowotscherkask speziell zur Verwaltung und umfassenden Unterstützung der russischen Besatzungstruppen im ukrainischen Donbas aufgestellt wurde. Zu dieser Armee gehören auch die Armeekorps in besetzten Donezk und Luhansk.
Bereits beim gemeinsamen strategischen Militärmanöver „Sapad 2017“ hat die neue Gruppierung um die Ukraine herum ihre Fähigkeiten zur Durchführung offensiver Operationen in den o.g. drei Richtungen getestet. Dabei wurde das belarussische Gebiet für die schnelle Verlegung russischer Truppen in den Operationsschauplatz und die Schaffung eines Aufmarschgebietes für kombinierte Militäroperationen gegen Polen, die baltischen Länder und die Ukraine genutzt. Der jüngste Migrationsangriff aus Belarus auf die EU – ich persönlich habe keine Zweifel daran, dass diese Attacke von Moskau aus geplant und organisiert wurde – wurde nach einem mit „Sapad 2017“ ähnlichen Szenario durchgeführt. Dieses zielt auf eine Aggression gegen die baltischen Staaten, Polen (u.a. durch die sog. Suwalki-Lücke) und die Ukraine ab. Auch wurde die russische Militärinfrastruktur um die Ukraine herum ständig verbessert und ausgebaut. An den regelmäßigen Militärübungen nahmen sowohl die in unmittelbarer Nähe der ukrainischen Grenze stationierten Einheiten, als auch die aus weit entfernten Gebieten Russlands teil, was das Offensivpotential in westlicher Richtung wesentlich erhöhte.
Gleichzeitig hat Russland alle Teilstreitkräfte (Seekriegsflotte, Luftstreitkräfte und Heer) auf der besetzten Krym maximal aufgestockt, was derzeit die Vorherrschaft Russlands im Schwarzen Meer sichert, u.a. durch die Erhöhung der Anzahl von Überwasserschiffen und U-Booten, die Einrichtung einer totalen A2AD-Zone (Anti-Access/Area Denial) sowohl im Meer (über und unter Wasser) als auch im Luftraum um die Krym herum, sowie die Stationierung einer Fliegergruppe und moderner Luftverteidigungssysteme auf der besetzten Krym. Die gesamte Raketensalve von U-Booten, Überwasserschiffen und Bodenraketensystemen der russischen Schwarzmeerflotte erreicht derzeit 200 Raketen (darunter Langstrecken-Marschflugkörper „Caliber“), die nicht nur für die gesamte Ukraine, sondern auch für große Teile Europas eine Gefahr darstellen.
2021 erreichten Russlands Vorbereitungen für eine groß angelegte Offensive gegen die Ukraine ihren Höhepunkt. Im April und Mai führte Russland ungeplante strategische Manöver durch, an denen bis zu 110.000 Soldaten sowohl aus den vor Ort stationierten Truppenteilen als auch aus den weit entfernten Gebieten Russlands teilnahmen. Im September veranstaltete Moskau, u.a. auch auf dem Gebiet von Belarus strategische Übungen „Sapad 2021“, die tatsächlich das Ausmaß der Frühjahrs-Manöver wiederholten. Im November begann Russland erneut intensiv zu manövrieren, was von ukrainischen und westlichen Geheimdiensten bemerkt wurde und eine heftige Reaktion in den Medien auslöste.
Die wichtigste Frage, die sich bei dieser Sachlage stellen lässt: Bereitet sich Russland wirklich auf eine groß angelegte Militäroperation gegen die Ukraine vor und wie hoch ist deren Wahrscheinlichkeit anhand verfügbarer Daten aus offenen Quellen?
Nach meiner Einschätzung ist Russland aus rein militärischer Sicht völlig bereit, eine strategische Offensive gegen die Ukraine aus mehreren Richtungen vorzunehmen, sowohl aus Russland als auch aus Belarus, der besetzten Krym, dem besetzten Donbas und Transnistrien (besetzter Teil Moldaus).
Jedoch wird Russland – anders als 2014, als sich die Ukraine in einer schwierigen Situation der „strategischen Verlegenheit“ befand, die Systeme der staatlichen und militärischen Verwaltung aus dem Ruder geraten sind und die Kampffähigkeit der Streitkräfte niedrig war – es derzeit schwer haben, seinen Plan erfolgreich umzusetzen. In jedem Fall wird ein groß angelegter militärischer Konflikt zwischen Russland und der Ukraine unter den gegenwärtigen Umständen katastrophale Folgen, nicht nur für die Ukraine und Europa, sondern auch für Russland selbst haben. Obwohl russische Politiker und Militärs oft unter dem Einfluss von Propagandaeuphorie stehen, hofft man, dass der russische Geheimdienst dem Kreml objektive Informationen über die tatsächliche Bereitschaft der Ukraine zur Abwehr militärischer Angriffe mitteilt.
In dieser Hinsicht ist es annehmbar, dass Russlands ständige Militärmanöver in der Nähe der Ukraine Teil eines umfassenden Plans des Kremls sind. Dieser basiert auf Putins geopolitischen Bemühungen, dass das „neue russische Reich“ die Major Power Rolle zurück erlangt und die Führung im neuen sogenannten „Orchester der Nationen“ übernimmt. Das Letztere – eine Gruppe führender Länder der Welt – hat über die globale Entwicklung und der Verteilung von Interessensphären zu entscheiden.
Die Bausteine dieser Idee sind neben der militärischen Vorbereitungen in der Nähe der Ukraine auch der Migrationsangriff Russlands auf Europa über Belarus, eine künstliche Energiekrise durch Verringerung russischer Gaslieferungen nach Europa, die Teilnahme an bewaffneten Konflikten im Nahen Osten und in Afrika, ständige Desinformationskampagnen sowie die regelmäßigen Zurschaustellungen der neuesten Militärtechnologien, die die Sicherheit der Vereinigten Staaten und anderer NATO-Staaten bedrohen könnten. Unter anderem geht es um die jüngste demonstrative Zerstörung des Satelliten durch ein neues Raketen- und Antisatellitensystem.
Taktische Aufgaben dieser komplexen hybriden Offensive könnten darin bestehen, die Zustimmung des US-Präsidenten für ein weiteres Treffen mit Putin einzuholen, um neue Zugeständnisse auf internationaler Ebene auszuhandeln, u.a. die schnellstmögliche Inbetriebnahme der Pipeline Nord Stream 2, die Erzwingung der Ukraine, sich an die Minsker Abkommen nach der russischen Auslegung zu halten sowie den endgültigen „Anschluss“ von Belarus.
Mögliche strategische Ziele eines systemumfassenden Angriffs Russlands sind: Geopolitischer Durchbruch bis hin zum „Orchester der Nationen“, Erlangung voller Kontrolle über den postsowjetischen Raum, die sogenannte „Finnisierung“ der Ukraine (d. h. offizielle Neutralitätserklärung der Ukraine, Verbot der NATO-Mitgliedschaft und Hemmung des EU-Beitritts), Sicherung der langfristigen Dominanz auf dem europäischen Energiemarkt sowie die Verankerung in den Interessengebieten Russlands (Afrika, Naher Osten). Tatsächlich geht es um den Traum Putins, sich für „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts – den Zusammenbruch der Sowjetunion“ zu rächen und die „Weltführerschaft Russlands“ wiederherzustellen.
Dabei ist die militärische Präsenz das wichtigste Druckinstrument in dieser hybriden geopolitischen Operation Russlands. Sollte Moskau diese Ziele nicht erreichen können, wird seine Bereitschaft, die Ukraine erneut anzugreifen, immer höher. Zugleich ist die Wahrscheinlichkeit, dass Russland seine Drohungen wahrnimmt, direkt durch die Fähigkeit der Ukraine bedingt, solcher Aggression effektiv entgegenzustehen.
Nach meinen Schätzungen ist derzeit das wahrscheinlichere Szenario, eine schnelle (ich würde sogar sagen, eine Blitz-) Operation mit Luft- und Marinelandungen von der besetzten Krym aus durchzuführen, um Gebiete in der Südukraine zu besetzen und einen Landkorridor von Russland bis zu der Krym zu bilden, die Infrastruktur für die Wasserversorgung der Krym zu besetzen sowie, wenn möglich, den Zugang der Ukraine zum Meer zu sperren.
Eine solche Operation kann nur dann Erfolg haben, wenn die oberste militärische und politische Führung der Ukraine nicht in der Lage sein wird, sofort auf die Aktionen Russlands zu reagieren. Wenn die Ukraine nicht innerhalb von wenigen Stunden nach der Landung eine Verteidigungsoperation als Antwort auf die russische Offensive einleitet, wird Russland schnell die Gebiete erobern und der Ukraine ein Ultimatum stellen: Sollte die Ukraine eine Gegenmaßnahme wagen, wird Moskau einen großangelegten Angriff in alle Richtungen starten.
Aus diesem Grund ist die Widerstandskapazität und die Fähigkeit der ukrainischen Nation, sofort auf den russischen Militärangriff zu reagieren, der Schlüsselaspekt. Die Situation im Februar-März 2014, als der Staat seine Entscheidungsfähigkeit zur Verteidigung und Sicherheit abrupt verlor, war ideal für den Angriff Russlands. Genau diese Situation möchte Russland wiederholen.
Dies wäre zum Beispiel möglich, falls in der Ukraine radikale Proteste ausbrechen (aufgrund der sich verschlechternden sozialen und wirtschaftlichen Lage, einer eskalierenden politischen Konfrontation oder einer gezielten Operation des russischen Geheimdienstes), was dazu führen würde, dass die militärisch-politische Führung ihre Funktionen nicht wahrnehmen kann und die Kontrolle über den Sicherheits- und Verteidigungssektor verlorengeht. In diesem Fall könnte Russland erneut günstige Bedingungen nutzen und mehrere schnelle taktische Operationen durchführen und dann – je nach Entwicklung der Lage – versuchen, die Besatzungszone mit der parallelen Zerstörung der Ukraine als Staat auszuweiten.
Meine Schlussfolgerung und Prognose für die weitere Entwicklung der Lage ist wie folgt: Russland wird die militärische Bedrohung der Ukraine ständig erhöhen, eine Operation aber nur im Falle einer internen Destabilisierung der Ukraine und der Unfähigkeit des ukrainischen Verteidigungssystems schnell auf die neue Kreml-Aggression zu reagieren, durchführen. Somit ist es wahrscheinlich, dass Russland neben anderen hybriden Mitteln die militärische Bedrohung als Druckinstrument einsetzt.
Parallel wird versucht, einen Chaosprozess in der Ukraine in Gang zu setzen, wofür man sich aller politischen, sozialen oder in anderen Bereichen existierenden Probleme und Widersprüche bedient. Wir werden bald sehen, wie erfolgreich diese Strategie sein wird, denn die Zeit spielt nun gegen Russland – die ukrainische Armee wird von Tag zu Tag stärker, und Moskau wird nach einiger Zeit immer weniger über die militärischen Optionen zur Lösung der „Ukrainischen Frage“ nachdenken können.
Mykhajlo Samus, Direktor, New Geopolitics Research Network