Worauf weist der Anstieg der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze hin? Wie wird der Krieg aussehen, wenn er passiert? Was steckt hinter der polnischen Grenzkrise und wie bereitet sich der Westen, der Ukraine zu helfen? Kann die EU die Ukraine angesichts einer eskalierenden Energiekrise unterstützen? Die Zeitschrift „Brussels Ukraine Review“ stellte diese sehr schwierigen Fragen den Europaabgeordneten, Politikern der Ukraine und Weißrusslands sowie westlichen und ukrainischen Experten.
Rasa Juknevičienė, litauisches MdEP (Fraktion der Europäischen Volkspartei), stellvertretende Vorsitzende des Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung des Europäischen Parlaments, Verteidigungsminister von Litauen 2008-2012
Ich nehme diese Situation sehr ernst. Natürlich weiß niemand, was Putin wirklich im Sinn hat aber ich glaube nicht, dass er den Unsinn macht, einen weiteren totalen Krieg in der Ukraine zu beginnen.
Einerseits wissen wir nicht, wohin die aktuellen Spannungen führen werden aber andererseits wissen wir mit Sicherheit, dass Russland in der Vergangenheit Truppenkonzentration als Druckmittel auf die Ukraine und Europa eingesetzt hatte. Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, dass Russland nun erneut versuchen wird, die Zunahme an militärischer Präsenz und Angst als Haupttrumpf zu nutzen, um seine eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen durchzudrücken.
Laut russischen Desinformationskanälen besteht das Hauptziel des Kremls darin, zu verhindern, dass die Ukraine eine Beitrittseinladung von der NATO erhält. Das ist Kremls größte Angst. Putin ist beharrlich paranoid, wenn er versucht, die Ukraine in die Umlaufbahn Russlands zurückzubringen, weil er wohl versteht, dass das Imperium des Kremls ohne die Ukraine unmöglich ist. Aber die Vorstellung, dass die Ukrainer mit Gewalt nach Russland „zurückgebracht“ werden können, ist Putins großer Fehler.
Angesichts der starken pro-westlichen Ausrichtung der Ukraine glaubt Putin, dass er mehr Druckmittel braucht, um die Europäer davon abzuhalten, die euro-atlantische Integration der Ukraine auch nur als eine Chance zu betrachten. Nun ist es seiner Meinung nach an der Zeit, einen solchen zusätzlichen Einflusshebel zu schaffen: Die Welt hat mit der Unsicherheit wegen der Covid-Pandemie, steigender Preise, hoher Inflation, wirtschaftlicher Instabilität usw. zu kämpfen. Russlands Maßnahmen zielen darauf ab, bestehende Spannungen aktiv zu verstärken und das Gefühl der Angst und Unsicherheit festzuwurzeln. Dazu gehört nicht nur die Ansammlung der Streitkräfte. Heute wird in den Nachrichten von der wachsenden Zahl von Artilleriebeschüssen entlang der Trennlinie im Donbas berichtet. In den letzten Monaten erlebten wir zudem hybride Angriffe von Lukaschenko an der Grenze zu Litauen und Polen.
All diese Maßnahmen zielen darauf ab, den Druck auf die EU, die NATO und die Ukraine zu erhöhen und das müssen wir ernst nehmen. Als EU müssen wir eine gemeinsame Position erarbeiten und annehmen und dürfen uns nicht erpressen lassen. Wir müssen aktiv und vorausschauend handeln und die Zusammenarbeit mit unseren Partnern in der Ukraine stärken. Eine der konkreten Aufgaben, die wir tun können, besteht darin, „unsere Hausaufgaben zu machen“ und bereit zu sein, spürbare Instrumente zur Unterstützung des Gipfeltreffens der Östlichen Partnerschaft im Dezember dieses Jahres bereitzustellen.
Ich kann nicht im Namen der EU oder der NATO insgesamt sprechen, aber das Europäische Parlament hat eine sehr klare Position zur russischen Aggression und Intervention geäußert. Wir machen uns keine Illusionen über die Absichten des Putin-Regimes. Diese Schlussfolgerung lässt sich auch aus dem jüngsten Bericht über die Ausrichtung der politischen Beziehungen zwischen der EU und Russland ziehen, der im September dieses Jahres bei allen politischen Gruppen große Zustimmung fand.
Die EU ergriff auch Vorsichtsmaßnahmen durch Verschärfung der Sanktionen gegen Mitglieder der russischen Kreml-Elite und einer stärkeren Unterstützung der demokratischen Opposition in Russland. Die jüngste Entscheidung, Alexei Nawalny den Sacharow-Preis für geistige Freiheit zu verleihen, belegt diese Position.
Neben konkreten Schritten, die die EU bereits unternahm, um die Aggression Russlands einzudämmen, unterstützt die Europäische Union die Ukraine weiterhin dabei, ihre Fähigkeiten zu erweitern, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu stärken sowie durch gegenseitigen Erfahrungsaustausch die russische Desinformation zu bekämpfen.
Noch stärkere Unterstützung bieten die Regierungen der einzelnen Länder. Eines der wichtigsten Beispiele ist das Strategische Partnerschaftsabkommen zwischen den USA und der Ukraine, unterzeichnet im September dieses Jahres. Es handelt sich um ein großes Abkommen, das umfassende Unterstützungsmaßnahmen in allen Schlüsselbereichen beinhaltet, von Sicherheit und Verteidigung über Demokratie und Menschenrechte bis hin zu wirtschaftlichen Reformen. Die Unterstützung einiger Länder ist auch innerhalb der EU zu spüren. Litauen hat beispielsweise die euro-atlantische Integration der Ukraine konsequent unterstützt sowie militärische und institutionelle Hilfe zur Umsetzung der notwendigen Reformen geleistet.
Ende November trafen sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und NATO-Generalsekretär Jan Stoltenberg zu einem gemeinsamen Besuch in Litauen. Dies ist das erste derartige Treffen in der Geschichte. Die Entscheidung Litauens, dieses Treffen auszurichten, ist an sich schon ein greifbares Signal, dass sowohl die EU als auch die NATO die Lage in der Region sehr ernst nehmen. Gleichzeitig hat das gemeinsame Treffen in Litauen gezeigt, dass die EU und die NATO angesichts der Sicherheitsherausforderungen Russlands eine starke Front sind. Der NATO-Generalsekretär kommentierte die Lage an der russisch-ukrainischen Grenze und versicherte Unterstützung der Ukraine seitens der Allianz.
Schaut man auf das Europäische Parlament, so wurde bereits eine klare Position formuliert. Dies belegt die massive Unterstützung des Berichtes über die Richtlinien der politischen Beziehungen zwischen der EU und Russland. Boris Johnson brachte seine Position zum richtigen Zeitpunkt zum Ausdruck, er rief deutlich zu Maßnahmen auf, die im Rahmen der bestehenden Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich weiterentwickelt werden können.
Die Annexion der Krym und der Ausbruch des Krieges im Donbas sind grundlegende Verstöße gegen das Völkerrecht. Wenn wir die Reaktion der EU betrachten, ist es sehr wichtig, dass wir nicht aufgegeben haben. Wir müssen eine Politik der Nichtanerkennung der Annexion der Krym verfolgen, egal wie lange sie dauert.
Anhand der russischen Aggression auf der Krim und im Donbas haben wir gelernt, dass es nicht möglich ist, mit Autokraten zu verhandeln. Die einzige Sprache, die sie verstehen, ist die Sprache der Macht. Europa darf sich keine Illusionen machen, dass weitere Gespräche die Situation verbessern werden.
Stattdessen müssen wir im wahrsten Sinne des Wortes geopolitischer denken. Es ist an der Zeit, dass die EU die geopolitische Verantwortung übernimmt und eine Führungsrolle in der Östlichen Partnerschaft zeigt. Auch wenn es nach wie vor entscheidend ist, die bestehende Unterstützung zu leisten und die existierenden Plattformen für die Zusammenarbeit auszudehnen, ist eine echte Führungsrolle der EU ohne einen starken und klaren Aufruf zur Integration unmöglich. Dies ist die einzige wichtige Maßnahme, die wir zu den Instrumenten der EU hinzufügen könnten.
Ich verstehe, dass die vollständige euro-atlantische Integration der Ukraine noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Man sollte aber keine Angst haben. Früher war der Westen diesbezüglich verängstigt, wovon aber nur Putin profitiert hat. Er verwendet Einschüchterungstaktiken, da er weiß, dass Angst eine mächtige Waffe ist.
Wir müssen mutig sein und der Ukraine einen klaren Kurs in Richtung europäischer Integration anbieten. Die europäische Integration der Ukraine, Moldaus und Georgiens, ist der einzige Weg, um demokratische Entwicklung, Wohlstand und langfristige Stabilität in diesen Ländern zu gewährleisten. Es gibt keine andere lebensfähige Alternative zu den Vorteilen, die die europäische Integration bringen kann. Darüber hinaus kann sich der Erfolg dieser Länder auf dem Weg zur europäischen Integration auch positiv auf den Wunsch der Bevölkerung Russlands auswirken, ihr Land offener und demokratischer zu entwickeln.
Heutzutage gibt es immer öfter Diskussionen über die wirklich neuen Mechanismen der allmählichen Integration, wie die sog. „Prodi-Formel“: „Alles außer Institutionen“. Dafür müssen wir jetzt kämpfen, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für unsere eigene Sicherheit. Je weniger Raum wir für die schädlichen Auswirkungen von Diktaturen an unseren Grenzen lassen, desto sicherer werden wir innerhalb der EU sein[1].
Bezüglich der Energiekrise, so sind sich derzeit nicht alle EU-Mitglieder der ganzen Bandbreite der Energieprobleme bewusst, die sich aus unserer Abhängigkeit von Russland ergeben. Nord Stream 2 ist ein gutes Beispiel dafür. Die Pipeline muss aber noch zertifiziert werden, was bedeutet, dass wir noch die Wahl haben. Der EU stehen einige Instrumente zur Verfügung: Alle Mitgliedsstaaten sind verpflichtet sicherzustellen, dass ihre Energieprojekte vollständig dem europäischen Recht entsprechen. Dies gilt auch für Nord Stream 2. Derzeit ist die Zertifizierung dieser Pipeline durch deutsche Behörden ausgesetzt, aber selbst wenn sie abgeschlossen ist, muss sie von der Europäischen Kommission überprüft werden. Die Europäische Kommission kann auch eine Untersuchung der Maßnahmen von Gazprom zur Manipulation des EU-Energiemarktes einleiten. EU-Abgeordnete haben die Europäische Kommission bereits um eine solche Untersuchung gebeten.
Um jedoch wirksame Schritte zu unternehmen, müssen wir uns bewusst sein, dass die Einführung von Nord Stream 2 nicht zu unserer Energiesicherheit beitragen wird. Im Gegenteil, bei einer größeren Abhängigkeit laufen wir Gefahr weiterer schmutziger Erpressungsversuche durch Russland. Die aktuelle Preismanipulation, die europaweit zu einem starken Anstieg der Energiepreise führte, zeigt dies allzu gut. Für viele war dies ein Weckruf: Unsere Verbündeten beginnen zu erkennen, dass Russland kein verlässlicher Partner für unseren Energiebedarf ist.
Äußerungen wie die von Boris Johnson sind in diesem Zusammenhang zu begrüßen. Er hat Recht: Wir können nicht gleichzeitig beides haben- sowohl signifikante Unterstützung der Stabilität und Demokratie bei unserem Nachbarn, als auch Geschäfte „wie immer“ mit Russland, insbesondere in solch kritischen Bereichen wie Energie.
Diese These gilt sowohl für Europa als auch für die Ukraine. Die Letztere muss ihre Energieversorgung diversifizieren und ihre Abhängigkeit vom russischen Gastransit maximal reduzieren. Die Abhängigkeit von Russland ist eine Schwäche, die sich keiner von uns leisten kann, insbesondere angesichts der zunehmenden Bedrohungsversuche durch hybride Angriffe, zunehmende Militärpräsenz, Einmischung in politische Prozesse usw.
Meine größte Hoffnung ist, dass die Energiekrise ein „Weckruf“ für ganz Europa sein wird, und sie dazu anspornt, ihre geopolitische Verantwortung und Führungsrolle zu behaupten.
[1] https://elpnariai.lt/en/eap-beyond-westlessness/