Europa erlebt wieder stürmische Zeiten. Die Gaserpressung seitens des Kremls ließ noch nicht nach, als sich die Migrationskrise an der belarussischen Grenze, sowie an den baltischen Staaten  anbahnte. Nur ganz naive Menschen konnten glauben, dass diese vom „teuflischen“ Lukaschenko provoziert wurde. Der tatsächliche Regisseur des Ganzen ist Putin. Sie können mich fragen: warum wohl? Der sehnlichste Wunsch des Kremls war und bleibt, die EU und NATO zu spalten, sowie die einen europäischen Länder den anderen gegenüberzustellen. Das Prinzip ist ewig wie die Welt: divide et impera (teile und herrsche).

Leider muss man traurig feststellen, dass dies Putin manchmal auch gelingt. Großzügige „Finanzspritzen“ in die Rechtsradikalen in Deutschland und Italien, Bestechung aktueller und ehemaliger Politiker in Frankreich und Österreich, Sonderbeziehungen zu Ungarn und Serbien, eine aktive Impfgegner-Kampagne durch RT- und Sputnik-Propaganda-Sprachrohre, sowie „Nord Stream-2“ zahlt sich aus: In Europa wird es immer schwieriger, mit einer einheitlichen Stimme zu sprechen. Wie wir sehen können, sind die Formen unterschiedlich, aber das Wesen ist das gleiche.

Das bequemste Werkzeug für die Schichtung des kollektiven Westens war wohl die sog. „Ukrainische Krise“, wie die Aggression des Kremls von manchen im Westen immer noch genannt wird. Dass dies eine Aggression ist, wird jedem klar, der den Text der Resolution №3314 der UN-Generalversammlung vom 14. Dezember 1974[1] liest und die dort definierten Aggressionsmerkmale mit Russlands Vorgehen in der Ukraine ab 2014 bis heute vergleicht. Es ist zu hoffen, dass diese Resolution eines Tages auch in den europäischen Hauptstädten sowie im EU- und NATO-Hauptquartier gelesen wird.

Nachdem der Kreml die ukrainische Krym besetzte und einen Krieg im Donbas auslöste, stand der Westen vor einem Dilemma: Entweder die Tatsache akzeptieren, dass im XXI. Jahrhundert totalitäre und aggressive Regime nach eigenem Ermessen die Grenzen europäischer Staaten neu ziehen und das gesamte System der globalen Sicherheit in Frage stellen können oder ihnen eine gebührende Abfuhr erteilen. Es wird immer noch der Eindruck erweckt, dass das liberale Europa sich weder für die eine noch die andere Variante entschied, hoffte aber gleichzeitig, dass seine Schmeichelpolitik gegenüber dem Aggressor auf Kosten seines Opfers, helfen wird, mit heiler Haut davonzukommen. Dazu trug auch die Kompromiss- und Zustimmungspolitik der US- Regierungen von Obama und Trump bei.

Der strategische Fehler der „Versöhnungspolitik“ bestand in der Hoffnung, dass somit das Problem der russischen Offensive auf den kollektiven Westen gelöst werden könnte. Stattdessen wurde diese Politik vom Kreml als Schwäche und Berechtigung zu neuen Aggressionen wahrgenommen. Aber nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen den Westen selbst.

Die Situation ändert sich jedoch. Das Umdenken des Westens bzgl. seiner Russlandpolitik wurde auch durch interne Ereignisse in diesem Land ausgelöst. Menschenrechtsverletzungen, Ermordungen und Vergiftungen führender Regierungsgegner, Folterungen in Gefängnissen, totale Zensur, offene antiwestliche Propaganda, Neufassung des Grundgesetzes unter Putin, Manipulation von Parlamentswahlen usw. sind im russischen Regime zum Alltag geworden. Selbst für einen sehr liberalen und sehr geduldigen Westen ist es schon zu viel.

Das russische Spiel mit dem Feuer an den Grenzen der Ukraine beschleunigte die Suche nach Antworten auf die Herausforderungen seitens Moskau. Das Force Majeure im April und die damals sehr versöhnliche Reaktion bestärkten den Kreml in der Ansicht, dass der Druck auf den Westen wiederholt werden könnte. Genau diese Situation sehen wir heute. Im Gegensatz zum Frühjahr ist die Reaktion des Westens jetzt aber viel härter. Das ist für den Kreml besorgniserregend, aber es hält ihn nicht auf.

Der Kreml geht in seinen Berechnungen davon aus, dass der kollektive Westen höchstwahrscheinlich für die Ukraine nicht kämpfen wird. Ich erlaube mir anzunehmen, dass der Westen auch für eine hypothetische Narva, die Stadt in Estland, nicht kämpfen wird. Der Grund liegt auf der Hand: Der europäische Verstand hat längst sogar die Spuren eines militanten Revanchismus verloren, und ein allumfassender Pazifismus ist zur Ideologie der EU und der NATO geworden, auch wenn es äußerst notwendig ist, zwischen Aggressor und Opfer klar zu unterscheiden. „Hauptsache, es wird nicht geschossen“ – dieser humanistische Ansatz führte dazu bei, dass viele europäische Konflikte jahrzehntelang eingefroren wurden, ohne wirklich grundsätzlich gelöst zu werden.

Stattdessen erinnerten sich die Europäer an eine andere Form der Einflussnahme auf Völkerrechtsverletzer – die Sanktionen. Obwohl sie nur darauf abzielen, das Verhalten zu ändern, nicht das Regime, haben sie dennoch eine abschreckende Wirkung. Aber reicht es wirklich aus? Die Entscheidung, die Krym einzunehmen und den Krieg im Donbas zu entfalten, wurde in erster Linie vom RUSSISCHEN STAAT in seinen höchsten politischen Institutionen getroffen. Bestimmte juristische oder natürliche Personen haben nur die jeweiligen Befehle ausgeführt. Daher sind die auf die Letzteren gerichteten Sanktionen in der Praxis eher eine Möglichkeit, die Haupttäter nicht zu bestrafen und den Aggressor nicht zurechtzuweisen.

Wie wird sich die Situation weiter entwickeln?

Es ist davon auszugehen, dass nachdem der kollektive Westen nun seine liberalen Augen leicht öffnete, er doch sehen konnte, dass seine vitalen Interessen größer denn je unmittelbar bedroht werden. Der Verlust der Ukraine bedeutet den Verlust der strategischen Initiative und die weitere Offensive Moskaus. Zu den nächsten Opfer könnten zuerst Moldau, Georgien, die baltischen Länder und später auch Polen, Rumänien oder Bulgarien zählen. Daher muss schnellstens gehandelt werden. Es bleibt nur die Frage: Wann und wie?

Es ist notwendig, sehr konkrete Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine zu ergreifen. Eigentlich sollte dies noch gestern getan werden. Die Aussagen wie „Falls Moskau angreift, dann werden wir…“ sind in erster Linie unmenschlich, weil sie bedeuten, dass Tausende oder Zehntausende von Militärs und Zivilisten auf beiden Seiten sterben werden, und die Infrastruktur vieler Regionen sowohl in der Ukraine als auch in Russland zerstört wird. Die Frage, ob der Konflikt lokalisiert werden könnte oder ob er zu einem umfangreichen Krieg eskaliert wird, bleibt offen. Ist eine solche Entwicklung im Interesse des Westens? Ich vermute, nein.

Daher benötigt die Ukraine eine sofortige und umfassende militärische Unterstützung. Ich würde über so etwas wie das Leih- und Pachtgesetz aus den Zeiten des Zweiten Weltkrieges sprechen. Dies sind in erster Linie Luftverteidigungsanlagen, Panzer- und Schiffsabwehrwaffen, Mittelstreckenraketen, Aufklärungsgeräte und vieles mehr, was den Fachleuten gut bekannt ist. Wir müssen unseren amerikanischen, britischen, kanadischen, polnischen, litauischen, türkischen und einigen anderen Verbündeten danken, die nicht nur ihr Besorgnis aussprechen, sondern den ukrainischen Soldaten bereits die Möglichkeit gegeben haben, sich viel sicherer zu fühlen. Die Bereitschaft einiger NATO-Staaten, nicht nur bestimmte Arten von militärischer Ausrüstung auf das ukrainische Territorium zu verlagern, sondern auch kleine Kontingente ihrer Truppen zu entsenden, ist von grundlegender Bedeutung. Wir hoffen, dass solche Beispiele andere NATO-Staaten dazu ermutigen werden, ihre Position zu ändern und mit den Aussagen wie „gleichwertige Entfernung“ und „Nichtlieferung von Waffen in die Konfliktzonen“ aufzuhören, was de facto eine indirekte Unterstützung von Moskau bedeutet. Letztlich hat die Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung (wer es vergessen haben sollte, kann den Artikel 51 der UN-Charta noch einmal lesen und nicht nur ständig wiederholen, dass „es keine Alternative zu dem Minsker Abkommen gäbe“).

Fazit: Eine mächtige ukrainische Armee, die dem russischen Aggressor spürbare und schmerzhafte Verluste zufügen kann, ist die beste Garantie gegen das unangemessene Verhalten des Kreml-Regimes, das sowohl im Interesse der Sicherheit der Ukraine als auch des Westens liegt.

Dies ist nur eine Möglichkeit, um Russland zurückzuhalten. Eine andere sind die bereits erwähnten Sanktionen. Aber sie sollten nicht ex post, sondern ex ante geschehen. Wie wir wissen, gibt es genügend Gründe dafür. Die Sanktionen müssen sich auf die wichtigsten Bereiche konzentrieren, die Moskau einen ernsthaften wirtschaftlichen Schaden zufügen könnten. Das sind harte Branchensanktionen. In den USA werden sie „höllisch“ genannt: Öl- und Gasembargo, Abkopplung vom Finanzsystem des Westens, Einfrieren der Bestände russischer juristischer Personen und berühmter physischer Personen in Banken in Europa und Nordamerika, Verbot für Aeroflot und andere russischen Fluggesellschaften, Flughäfen in Europa und Nordamerika anzufliegen, Verbot für russische Schiffe, europäische und amerikanische Häfen anzufahren usw. Die Liste der Sanktionen ist seit langem bekannt. Es ist wichtig, dass die Wirtschaftssanktionen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa koordiniert werden. Für die weitere Anwendung bedarf es nur den politischen Willen.

Ganz zu schweigen von politischen und diplomatischen Sanktionen, wie zum Beispiel: Runterstufung der diplomatischen Beziehungen, Beschränkung aller offiziellen Kontakten bis auf die Arbeitsebene, Entzug des Stimmrechtes oder gar der Ausschluß aus dem Europarat. Das Land-Aggressor muss verstehen, dass die Zeiten für eine Überredung vorbei sind. Entweder werden wieder die Normvorschriften des Völkerrechtes beachtet, die Truppen aus Georgien, Moldau und der Ukraine abgezogen, auf das Einmischen in die inneren Angelegenheiten der postsowjetischen Länder sowie der EU und NATO verzichtet, die Cyberkriminalität eingestellt, sowie die Menschenrechte in Russland geachtet oder es erfolgt eine internationale Isolation und der darauffolgende natürliche Zusammenbruch. Und nicht nur der des Putin-Regimes, sondern des ganzen Russlands. Denn dieses Konstrukt wird noch schneller zusammenbrechen als die ehemalige Sowjetunion, sobald es einen ernsten Schlag abbekommt. Es gibt für einen Dialog mit internationalen Kriminellen  kein Platz mehr.

Es hat sich so ergeben, dass die Ukraine heute eine Art Vorpostender westlichen Zivilisation, eine Wasserscheide zwischen Demokratie und Totalitarismus geworden ist. Der Letztere versteht seiner Natur nach nur Gewalt. Die Ukraine und der kollektive Westen können und müssen es endlich zum Ausdruck bringen.

Wolodymyr Ohryzko, Außenminister der Ukraine (2007-2009), Leiter des Zentrums für Russlandstudien

 

[1] https://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/RES/3314(XXIX)&Lang=E

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