Joe Biden beruft den Demokratie-Gipfel am 9.-10. Dezember ein. Putin demonstriert derweil den Erfolg seiner Gasokratie. Nord Stream 2 wurde trotz einer zweijährigen Verzögerung aufgrund der Sanktionen des US-Kongresses, des aktiven Widerstandes aus Polen und der Ukraine sowie Kritik des Europäischen Parlaments fertig gebaut. Russland erhöht nun den Druck auf Deutschland und die EU, um die Pipeline nach den Bedingungen von Gazprom schnellstmöglich in Betrieb zu setzen. Der gaspolitische Druck aus Europa wächst gleichzeitig mit der militärischen Bedrohung. Russland hat schon längst das Kriegsbeil ausgegraben, obwohl die Machthaber in Berlin dies lieber nicht wahrnehmen wollen.
Eskalation zwecks Deeskalation
Die Entwicklungen auf dem europäischen Gasmarkt, auf dem Gazprom der dominierende Lieferant ist, müssen weniger angesichts der Marktstrategie, sondern mehr angesichts der Militärstrategie und der hybriden Sonderoperationen des Putin-Regimes bewertet werden. Diese wurden in den letzten sieben Jahren seit Beginn der Aggression gegen die Ukraine auf ein neues Perfektionsniveau gebracht.
Russlands Doktrin, im Westen als „Eskalation zwecks Deeskalation“ bekannt, die mit dem begrenzten Einsatz taktischer Nuklearwaffen verbunden ist, wird nun im europäischen Gaseinsatzgebiet in hybrider Form dargestellt.
Nach der für den Kreml vorteilhaften Biden-Merkel-Vereinbarung zu Nord Stream 2 im Juli 2021 erfolgte eine zunehmende Preiseskalation, die Anfang Oktober beim Kassageschäft einen Spitzenwert von 2.000 Dollar pro 1.000 Kubikmeter erreichte. Ende Oktober begann Russland „plötzlich“, sich um Europa Sorgen zu machen. Durch westliche Medien wurde die These verbreitet, Russland wolle die Gaspreise in Europa um 60 % senken.
Der Beginn der Phase der Gasdeeskalation erfolgte live im Fernsehen in Form einer öffentlichen Anordnung Putins an den Chef von Gazprom, nach dem 8. November mit dem Pumpen von Gas in die eigenen unterirdischen Untergrundgasspeicher in Europa zu beginnen. Meiner Meinung nach, sah es schon ziemlich komisch aus. Das war lediglich ein Showeffekt im gesamten Deeskalationsalgorithmus, denn die nächsten Tage zeigten, dass es eine Täuschung war. Die vorhandenen Daten belegten, dass Gazprom die verfügbaren freien Kapazitäten des Gastransportsystems der Ukraine und der Jamal-Europa-Route nicht für Lieferungen in die EU reserviert. Damit wird die saisonal steigende Nachfrage auf dem EU-Markt nicht gedeckt.
Um der europäischen Nachfrage gerecht zu werden, bietet Gazprom eben nicht bloß Preisnachlässe, er schlägt vor, zu der Praxis langfristiger Verträge mit bestimmten Bedingungen zurückzukehren. Tatsächlich ist es ein Mechanismus zur weiteren Markteroberung. Dies geschieht demonstrativ am Beispiel einiger russischer Satellitenstaaten in Europa – Ungarn und Serbien. Sie haben bereits billiges Gas im Rahmen neuer Verträge erhalten, als Gegenleistung dafür, dass sie auf den Transit durch die Ukraine verzichten und auf die Infrastruktur von Turkish Stream umsteigen. Erneut hilft Russland Orbán und Vučić, die bevorstehenden Wahlen zu gewinnen. Im Gegenzug müssen sie die Rolle des „Trojanischen Pferds Russlands“ in Europa spielen. Und der Kreml will noch mehr solcher „Trojaner“ haben.
Deshalb verhandelt Gazprom mit großen Spielern auf dem EU-Markt –Verbundnetz Gas (Deutschland), ENI (Italien), ENGIE (Frankreich) – über neue langfristige Verträge zu lukrativen Preisen. Dadurch, dass Gazprom europäischen Großkonzernen das Gas billiger als das Kassageschäft anbietet, wird Gazprom seine Präsenz weiter ausbauen, was die Abhängigkeit der EU von Russland – nicht nur im Energiesektor – vertiefen wird.
Der Anteil Russlands an den Gasimporten in die EU betrug bereits im ersten Halbjahr 2021 einen Rekordwert von 46,8 %. Nach der Preisdeeskalation und der zeitgleichen Aufzwingung an europäische Kunden neuer langfristiger Verträge mit niedrigeren Preisen könnte sich herausstellen, dass der in die EU importierte Gasanteil von Gazprom weit über 50% reicht.
Zudem steigert Russland rasant seine LNG-Produktion in der Arktis, was mit hohen Methanemissionen verbunden ist und den klimapolitischen Zielen zuwiderläuft. Russlands LNG-Exporte belaufen sich bereits jetzt auf über 30 Millionen Tonnen pro Jahr (42 Mrd. Kubikmeter pro Jahr). Das meiste davon geht auf den EU-Markt. Bis 2030 werden es über 100 Mrd. Kubikmeter sein.
Angesichts des natürlichen Rückgangs der Gasproduktion in Europa, des Mangels an technischen Kapazitäten Norwegens und Algeriens, die Gaslieferungen an die EU in den nächsten 10 Jahren deutlich zu erhöhen sowie der Unsicherheit bezüglich der LNG-Lieferungen aus den USA, wird die Europäische Union extrem abhängig von Russlands Lieferungen sein, mit allen politischen und geopolitischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.
Geopolitische Konturen der Gasokratie
Russlands wachsende Abhängigkeit von China und die Verbundenheit der zwei autoritären Regime in Moskau und Peking, sowie geopolitische und geoökonomische Expansionspläne führen zu Synergien zwischen diesen beiden Staaten.
Das geopolitische Mindestprogramm besteht darin, Europa im Energiesektor von den USA abzutrennen, sie endgültig auf die Russland-Schiene zu stellen und somit den Transatlantismus zu beenden. Diesen Zielen hat Deutschland während der Merkel-Ära durch die aktive Unterstützung und den Schutz von Nord Stream 2 vehement beigetragen.
Selbst jetzt, wo vielen in Europa und den USA anhand des Beispiels von Moldau und der Ukraine klar wurde, dass Russland Gas als Waffe einsetzt, behauptet Berlin das Gegenteil und droht den USA mit der Abkühlung der Beziehungen, falls die Sanktionen gegen Nord Stream 2 verlängert werden.
Zu berücksichtigen ist dabei auch das neue Gazprom-Megaprojekt „Power of Siberia 2“, das Russlands östliche und westliche Gastransportsysteme verbinden wird. Bisher verfügte Moskau nicht über die technischen Möglichkeiten, die Gasströme von Europa nach China umzuleiten, trotz der ständigen Aussagen der russischen Propaganda über solche Möglichkeiten. Aber sobald die Gasfelder Jamal und Ostsibirien miteinander verbunden sind, wird sich diese Gelegenheit ergeben. Und Russland wird dies voll ausnutzen.
Europa wird einer ständigen Erpressung durch Russland ausgesetzt sein, weil die Exportströme jederzeit nach China umgeleitet werden könnten. Da China der größte ausländische Investor in russische LNG-Projekte in der Arktis ist, wird es im Wesentlichen eine gemeinsame russisch-chinesische Gasdiktatur in Europa sein.
Gelingt es Russland, mit deutscher Hilfe Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen, könnte Moskau zu unerwarteten verdeckten Maßnahmen greifen, um die EU zu zwingen, den Widerstand gegen die russische Gasexpansion einzustellen. Auch muss Europa daran überzeugt werden, dass das russische Gas die einzige mögliche Option ist.
Darunter ist zu verstehen, dass Russland durch heimliche Aktionen, Cyberattacken oder Sabotagen durch das Direktorat für Tiefseeforschung des russischen Verteidigungsministeriums, die Offshore-Gasinfrastruktur in der Nordsee, über den norwegisches Gas in die EU gelangt, funktionell eingeschränkt oder funktionsunfähig machen kann.
Das Ultimatum der Gasokratie
Die Gasfront ist nur eine der Fronten der multifrontalen Offensive Russlands im Westen. Es gibt weitere Fronten, an denen sich Putin recht erfolgreich in Richtung Westen bewegt. Neue Fronten wurden im Osten der NATO und der EU, in Belarus, und im Süden im Balkan eröffnet. Der schleichende Anschluss von Belarus mit Hilfe des Minsker Proxy-Regimes, die Eröffnung einer Migrationsfront gegen die EU und die ständige Schwankung in Bosnien und Herzegowinamithilfe serbischer Proxy destabilisiert Europa und verändert die Machtverhältnisse zugunsten Russlands.
Russland wird schon in diesem Winter versuchen, Europa vor eine Wahl zu stellen. Das Endergebnis ist die maximale Unterstützung seitens Moskau bei der Lösung der Energie- und Klimaprobleme Europas durch eine neue Politik der „Entspannung“ sowie die Rückkehr zum Geist von Helsinki. Im Gegenzug möchte Moskau die Zustimmung zur Annexion von Belarus, die Auflösung der Souveränität der Ukraine, die Anerkennung der Zugehörigkeit der Krym zu Russland, die Beendigung der NATO- und EU-Erweiterung sowie Aufhebung von Sanktionen.
Das passt sehr gut zu „Jalta-2“, was der Kreml noch 2014 schnell umsetzen wollte. Das Putin-Regime verheimlicht nicht mehr seine Absichten. Der führende Ideologe des Putinismus, Wladislaw Surkow, weist offen darauf hin, dass „eine weitere Aufteilung der Einflusssphären notwendig ist… Und es wird – früher oder später, formell oder informell, heimlich oder offen – definitiv stattfinden“.
2022 ist für Russland ein bedeutendes Jahr – das 100. Jahrestag der Gründung der UdSSR, deren Zusammenbruch Putin als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Offensichtlich will er eine Reinkarnation der UdSSR in einer neuen Form. Die Ukraine mit ihrer wiederbelebten Staatlichkeit und den demokratischen – wenn auch etwas unvollkommenen – Verhältnissen steht dem im Wege. Die Umwandlung der Ukraine in einen blockfreien (kon-) föderativen (Quasi-) Staat als Mitglied einer neuen Union mit Russland, Ukraine und Belarus – das ist das Ziel der Putin-Regime für 2022.
In der Praxis bedeutet dies die Zerstörung der Ukraine. Entweder durch Energieerpressung und Blockade oder durch den Zwang zur Kapitulation. Wenn dies nicht klappen sollte, dann durch separate Vereinbarungen mit den USA über das Aufgeben der Ukraine aufgrund vom „Minsker Zwang“ und mit stillschweigender Zustimmung des gasarmen Europas. Sollte auch dies fehlschlagen, dann greift man zu einer bewaffneten Intervention, womöglich getarnt als Friedensmission.
Stellen wir Russlands Vorbereitungen im Gas-, Militär- und Politikbereich zusammen, kann die Botschaft des Kremls an den Westen wie folgt entschlüsselt werden: „Wir bereiten uns darauf vor, die verlorenen Territorien Russlands wieder einzusammeln. Die Ukraine ist nicht Europa. Der Winterkrieg ist nicht euer Krieg. Schaut nur zu. Ihr könnt gerne besorgt sein. Aber ihr sollt nicht eingreifen, sonst geht euch das Benzin aus oder es wird knapp und sehr teuer. Ihr habt bereits gesehen, wie wir dies tun können. Aber wir werden dafür sorgen, dass es in Europa warm und komfortabel bleibt. Wir sind sogar bereit, nach der Inbetriebsetzung von Nord Stream 2 mehr zu leisten. Legt uns keine Hindernisse in den Weg. Die USA und Biden werden euch nicht helfen. Seid pragmatisch. Russisches Gas im europäischen Haus ist besser als amerikanisches LNG mit ihrem Demokratie-Gipfel.
Das Einstellen von Nord Stream 2 mit den härtesten US-Sanktionen wird Russland nicht dazu bewegen, seine aggressive Politik aufzugeben, aber es wird seine weitere Expansion verlangsamen, da dadurch die transatlantische Solidarität und die Führungsrolle der USA nicht nur auf dem Demokratie-Gipfel zur Erscheinung kommt. In diesem Winter wird auch die Transatlantische LNG-Brücke in Form von LNG-Lieferungen nach Europa benötigt. Sonst wird die EU nicht überstehen können und die einzelnen Mitgliedsstaaten werden vor der Gasokratie des Kremls kapitulieren. Das Schicksal Europas und der transatlantischen Welt liegt nun wieder in den Händen der Vereinigten Staaten und des nicht zerstückelten Teils der europäischen politischen Szene. Der kalte Winter 2022 hat alle Gründe, heiß zu werden und ist prägend für den Kampf der korrupten aggressiven Gasokratie Putins einerseits und einer gespaltenen westlichen Demokratie andererseits. Solidarität mit der Ukraine tut nicht nur der Ukraine zugute, sie ist in erster Linie ein Test für die Vereinigten Staaten und Europa, ob sie ihre eigenen Prinzipien verteidigen können.
Mykhajlo Hontschar, Präsident, CGS Strategy XXI