Worauf weist der Anstieg der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze hin? Wie wird der Krieg aussehen, wenn er passiert? Was steckt hinter der polnischen Grenzkrise und wie bereitet sich der Westen, der Ukraine zu helfen? Kann die EU die Ukraine angesichts einer eskalierenden Energiekrise unterstützen? Die Zeitschrift „Brussels Ukraine Review“ stellte diese sehr schwierigen Fragen den Europaabgeordneten, Politikern der Ukraine und Weißrusslands sowie westlichen und ukrainischen Experten.
Andreas Umland, Analytiker am Schwedischen Institut für Internationale Beziehungen
Die Konzentration der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze ist bisweilen das eine Form des politischen Drucks. Ob es eine ernsthafte Kriegsvorbereitung, der Beginn einer kleinen Eskalation oder einfach nur eine Möglichkeit ist, die Ukraine und den Westen in Angst zu versetzen, darüber werden wir später erfahren. Womöglich weiß der Kreml auch noch nicht, was er tun wird und kann Entscheidungen erst im Verlauf der Ereignisse treffen.
Der Westen hat nicht vor, die Ukraine direkt, sprich, mit Truppen, zu unterstützen. Dies muss auch nicht unbedingt notwendig sein. Die Ukraine bereitet sich schon seit mehr als sieben Jahren auf ein solches Szenario vor. Die Vorbereitung ist besser als 2014, und auch die Lage ist verständlicher als 2014. Noch ist nicht bekannt, wie weit der Westen bei der Einführung von Sanktionen gegen Russland gehen wird.
Rhetorisch nimmt der Westen heute eine schärfere Haltung gegenüber Russland ein. Was die Wahl der politischen Handlungen anbetrifft, wird sich zeigen, sobald dies der Fall sein wird. Im Westen scheinen die bisherigen Sanktionen ein Teilerfolg gewesen zu sein. Dadurch wurde die Situation zwar nicht gelöst, jedoch konnte Russland zurückgehalten werden. Bei einer Eskalation kann es also zu neuen sektoralen und individuellen Sanktionen kommen. Andererseits diskutiert der Westen über mögliche neue Zugeständnisse seitens der Ukraine bei der Umsetzung der Minsker Abkommen nach russischer Auslegung.
Im Westen herrscht Solidarität mit der Ukraine. Allerdings gibt es in Deutschland verschiedene Gruppen, die von der Nord Stream 2 Gaspipeline profitieren und sich für politische Konsequenzen nicht interessieren. Die USA können dieses Projekt durch Sanktionen noch stoppen.
Yaroslav Chornohor, Vorstandsmitglied der NGO „Rat für Außenpolitik“ Ukrainisches Prism“
Die Aufstockung der russischen Truppen ist ein Signal an die NATO-Staaten, dass Russland „die Einsätze erhöht“, indem es droht, einen totalen Krieg auf dem Territorium der Ukraine zu beginnen. Auf diese Weise verschafft sich Russland die Aufmerksamkeit der führenden Länder der Welt, insbesondere der USA. Dies wird getan, damit man Russland in der großen Politik berücksichtigt.
Russland nutzt die Kriegsdrohung als Druckmittel auf die Ukraine und ihre Partner.
Boris Johnson skizzierte in seiner Rede die Probleme des internationalen Systems und rief dazu auf, sich ihnen zu stellen. England tut viel, um die Verteidigung und Widerstandsfähigkeit der Ukraine zu stärken. Aber ob es eine spürbare Unterstützung aus anderen europäischen Ländern geben wird, bleibt eine offene Frage, denn erstens ist Großbritannien aus der EU ausgetreten, und zweitens hat die EU selbst viele erhebliche interne und externe Probleme zu lösen.
Die EU hat keine Lehren gezogen, das Hauptziel dieser Institution ist den Konflikt möglichst gering zu halten und die innere Stabilität beizubehalten. Darauf zielen alle Bemühungen ab und man versucht, mit dem russischen Aggressor eine Einigung zu erreichen.
In Bezug auf die Gasleitung, die Abhängigkeit von der russischen Energie in verschiedenen europäischen Ländern ist unterschiedlich, daher ist die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen und gleichzeitig Russland zu widerstehen, auch verschieden. Die Ukraine sollte nicht auf eine einheitliche Unterstützung zählen, denn jedes Land wird in erster Linie seine eigenen Interessen schützen. Die Verteidigung der Ukraine liegt vollkommen in der Verantwortung der Ukrainer selbst, es ist notwendig, dies zu erkennen und aus dieser Stellungnahme die Defensive aufzubauen. Die internationale Unterstützung kann nur ein zusätzlicher, wenn auch sicherlich sehr wichtiger, Faktor sein.
David Stulik, Senior Analyst beim European Values Center for Security Policy (Prag)
Alle destabilisierenden Bemühungen entweder seitens Russland (Aufstockung seiner Armee an der Grenze zur Ukraine, instabile Gaslieferungen nach Europa, Involviertheit auf dem Westbalkan, in Zentralafrika usw.) oder seitens Belarus (künstlich verursachte Migrantenkrise), die unter dem selbsternannten „Präsidenten“ Lukaschenka zu einer Marionette in den Händen des Kremls bei seinen Operationen gegen den Westen geworden ist, sind tatsächlich Teil eines größeren Spiels – der Prüfung des Westens durch den Kreml. Auch soll man die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass der Westen (insbesondere Polen) durch die Lage an der Grenze zu Belarus abgelenkt und deswegen auf andere aggressive Aktionen und Schritte des Duos Lukaschenka/Putin weniger vorbereitet sein wird.
Ich persönlich glaube nicht, dass Putin einen umfassenden Krieg in der Ukraine und gegen die Ukraine beginnen könnte. Er wird auf heftigen Widerstand stoßen, der zu erheblichen Verlusten auf Seiten der russischen Armee führen wird. Das könnte für ihn in Russland negative Folgen haben. Stattdessen kann er sich vollkommen für die Durchführung schneller und kurzzeitiger Militäroperationen gegen die Ukraine entscheiden, die ihm sofortige Ergebnisse bringen würden. Es besteht auch die Möglichkeit der Einführung russischer Truppen in die besetzten Teile des Donbases, wo diese Truppen als „Friedenstruppen“ (wie es in Transnistrien der Fall sei) stationiert werden könnten. Dafür braucht Putin aber einen triftigen Grund, so kann er in den besetzten Gebieten einige Provokationen durchführen lassen und diese als einen formellen Vorwand nutzen, um zu intervenieren.
Wann immer die russischen Medien, die von dem Kreml stark und gründlich kontrolliert werden, solche Informationskampagnen starten, hat es einen bestimmten Grund. Man kann sicher sein, dass in ihrem Timing nichts Zufälliges passiert. Im Gegenteil, diese Informationseingriffe sind ein Signal dafür, dass der Kreml weitere hybride Operationen gegen seine „Feinde“ startet: gegen den Westen und gegen die Ukraine.
Ich kann auch nicht ausschließen, dass Putin mit all diesen destabilisierenden Schritten nur zum wievielten Mal die „roten Linien“ der westlichen Verteidigung und Reaktion überprüft. Er kann auch bluffen und so seine Einsätze in den Beziehungen mit dem Westen / mit der Ukraine erhöhen sowie durch hybride und militärische Bedrohungen bessere Verhandlungspositionen für sich verschaffen.
Ilya Ponomarenko, ukrainischer Journalist und Militärkorrespondent
Die Aufstockung russischer Truppen an der ukrainischen Grenze deutet meiner Meinung nach auf die Absicht der russischen Führung hin, die militärischen und politischen Spannungen in der Region erneut als Druckmittel auf europäische Länder, darunter Deutschland und Frankreich, zu nutzen. Dies kann an Zertifizierungsproblemen des Nord Stream 2 liegen.
Wie die Krise vom April 2021 gezeigt hat, ist der Druck durch sehr demonstrative Militärmanöver nahe der Grenze der Ukraine ein äußerst wirksames Instrument. Zugleich bin ich der Meinung, dass Russland wirtschaftlich, militärisch und politisch nicht in der Lage ist, eine totale Invasion durchzuführen, die ukrainischen Armee zu vernichten, die Widerstandszentren zu zerstören und ein Friedensabkommen mit der politischen Führung der Ukraine aufzudrängen. Der extrem hohe Preis und die fragwürdigen Ergebnisse einer solchen Operation machen ein derartiges Szenario eher unwahrscheinlich.
Ich denke, dass keine der Seiten, einschließlich Russland selbst, für ein solches Szenario weder politisch, wirtschaftlich, noch militärisch zu 100 % bereit ist. Für die EU wäre ein totaler Krieg, nach dem Ausmaß ähnlich dem Vietnamkrieg, verbunden mit Millionen ukrainischer Flüchtlinge aus den angegriffenen Städten undenkbar, und auch die NATO wird verheerende politische Verluste erleiden, weil sie Russland an dessen Westflanke nicht eindämmen konnte. Auch die Ukraine hat angesichts der Systemprobleme im eigenen Verteidigungssektor keine 100-prozentige Chance, eine umfassende, vielschichtige Militäroperation abzuwehren. Aber das große Territorium, eine motivierte Armee und die beträchtliche Fähigkeit der Bevölkerung, sich selbständig zu mobilisieren (wie das Jahr 2014 zeigte), machen den Preis für eine Invasion und Besetzung des Landes sicherlich zu hoch.
Bezüglich den Worten von Boris Johnson, ist es meiner Meinung nach eine Kombination aus einem Statement und einem Aufruf an Westeuropa. Die britischen Eliten verstehen historisch sehr wohl die Notwendigkeit, zur Eindämmung Russlands hart durchzugreifen. Heutzutage spürt man dort die wachsende Anfrage nach politischer Führung in der westlichen Welt.
Die letzten politischen Entscheidungen, die gezielt in die Medien durchgesickert sind, wie z.B. die Information über die Bereitschaft, 600 Soldaten in die Ukraine zu entsenden, zeigen den Willen, eine harte und entschlossene Haltung einzunehmen, die für den Kreml, der nur die Sprache der Macht respektiert, bereits ein wichtiger Faktor ist.
Was die Einflussinstrumente anbetrifft, so glaube ich, dass die EU trotz ihres schwachen politischen Willens immer noch über einen ernsthaften Einfluss verfügt, vor allem durch die Möglichkeit, milliardenhohe Vermögen russischer Eliten einzufrieren, sowie durch andere schwerwiegende Wirtschaftssanktionen, was als eine enorm wirksame Abschreckung dient.
Eine großangelegte Invasion und versuchte Besetzung der Ukraine mit 40 Millionen Einwohnern würde auf jeden Fall eine Operation in der Größenordnung des Irak im Jahr 2003 bedeuten und beispiellose menschliche Verluste und materielle Schäden mit sich ziehen. Im Falle einer wirklich umfassenden Invasion glaube ich, dass neue Herausforderungen, wie die beispiellose Migrationskrise an den Westgrenzen der EU, weitaus gefährlicher sein werden als die Energiekrise, daher wird Europa wahrscheinlich viel mehr tun, um eine Invasion zu verhindern als eine neue Versöhnung nach der Eroberung der Ukraine zu suchen.
Daniel Szeligowski, Leiter des Osteuropa-Programms am Polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten
Das Hauptszenario ist, dass Russland die Einsätze erhöht und soweit die Grundlage für Gespräche mit den USA über die Zukunft der Sicherheitsarchitektur in Europa bereitet. Aus russischer Sicht sollte solch eine neue Vereinbarung einerseits die sogenannte Sphäre der privilegierten Interessen Russlands, zu der die Ukraine gehört, berücksichtigen, und andererseits die Schaffung einer Pufferzone in Mitteleuropa festhalten, in der Russland nur eine begrenzte Militärpräsenz der NATO sehen möchte.
Es gibt auch das Szenario einer möglichen Militärintervention in der Ukraine, es besteht wohl eine solche Bedrohung, aber letztendlich hängt es von der westlichen Reaktion ab. Wenn es keine Antwort auf die Stellungnahme des russischen Militärs geben wird, ist auch ein zweites Szenario möglich.
Auf die EU fokussiert sich Russland nicht, es geht ihr um die NATO und die USA. Daher hängt es in erster Linie von der Bereitschaft der Amerikaner ab, die Ukraine zu unterstützen und hart zu reagieren. In den Vereinigten Staaten ist eine Debatte entbrannt zwischen denen, die Russland widerstehen möchten und denen, die die Ukraine aufopfern können. Das Ergebnis dieser Diskussion ist noch unklar. Normalerweise würde ich sagen, dass die USA kein Abkommen mit Russland zum Nachteil der Ukraine unterstützen werden, aber aufgrund der Truppensammlung um die Ukraine herum, erleichtert es der Kreml der USA sich zu entscheiden und rechtfertigt diese Entscheidung „im Namen des Friedens“.
Der Einfluss der EU auf Russland liegt im wirtschaftlichen Bereich: Sanktionen, Energiepolitik und Handel. Die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt trotz ihrer Koordinierung weiterhin in der Hand der Mitgliedstaaten. Es wird keine gemeinsame militärische Reaktion seitens der EU geben, dies hängt von der NATO ab. Wir haben gelernt, dass Russland vor einem Militäreinsatz nicht zurückschreckt, wenn der Preis relativ bescheiden ist, und zugleich der Westen nicht zu entschlossenem Handeln bereit ist. Außerdem dürfen wir uns nicht auf die Gewissenhaftigkeit Russlands verlassen. Aber ich glaube, nicht alle in der EU verstehen das.
Die zentrale Frage ist, ob es noch weiterhin Gastransit durch die Ukraine geben wird. Zu diesem Thema sollten Verhandlungen zwischen der EU, Russland und der Ukraine geführt werden. Natürlich wäre es viel einfacher, wenn es keine Alternativen gäbe, wie z.B. Nord Stream 2. Das Gas, das durch die Ukraine strömt, könnte bald über Nord Stream 2 transportiert werden, und die Gasinfrastruktur der Ukraine könnte weitgehend überflüssig werden. Nord Stream 2 verschafft Russland einen enormen Einfluss auf Deutschland und die EU insgesamt. Tatsächlich beweist Nord Stream 2, dass die Deutschen Recht hatten und dass der Wandel tatsächlich durch Handel hätte erfolgen können. Dies funktioniert jedoch anders, als sie dachten, da es die Einführung autokratischer Normen und Korruption in einer Demokratie ermöglicht. Putin wird Nord Stream 2 nutzen, um eine entscheidende Reaktion der EU auf seine Abenteuerlust zu erschweren.
Zu der Krise an der polnischen Grenze, so sind Putins hybride Kriegsführungstaktiken bekannt. Lukaschenko zu zwingen, Tausende von Migranten an die polnische Grenze zu treiben, lenkt einen wichtigen Verbündeten der Ukraine – Polen – kurz vor einer möglichen Invasion der Ukraine ab. Polen wird sich wohl mehr auf die Bedrohung seiner Grenze konzentrieren als auf die Aufstockung russischer Truppen an der ukrainischen Grenze.
Die Frage ist, wer hinter der Krise steckt – Lukaschenko oder Putin. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass Putin die ganze Krise von Anfang an organisiert hat. Ich nehme an, dass dies Lukaschenkos Abrechnung ist, um sich an Polen und Litauen für die Unterstützung der belarussischen Opposition und der EU-Sanktionen gegen Belarus Anfang dieses Jahres zu rächen. Darüber hinaus hat Lukaschenko eine Krise geschaffen, um im Nachhinein eine Lösung vorzuschlagen, er wäre bereit, einen Schritt zurückzutreten, sobald die Sanktionen gegen ihn aufgehoben werden. Aber die EU ist für eine solche Entscheidung noch nicht bereit. Wenn wir annehmen, dass Putin dahintersteckt, dann können wir auch davon ausgehen, dass dieser Konflikt als eine Ablenkung von Russlands Aktionen an der ukrainischen Grenze gedacht war.
Die Bedrohung durch eine militärische Lösung ist die höchste seit 2015. Dafür gibt es mehrere Argumente. Einerseits zwingt die COVID-Pandemie den Westen, sich auf interne Fragen zu konzentrieren, die polnisch-belarusische Krise lenkt die Aufmerksamkeit der NATO ab und der Abzug der US-Truppen aus Afghanistan lässt Russland glauben, dass die amerikanische Macht schwächelt. Auf der anderen Seite sammelte Russland die größten internationalen Reserven in seiner Geschichte an. Wenn Putin also zusätzliche Kosten riskieren müsste, ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. All dies zusammen bedeutet, dass sich aus russischer Sicht ein „Fenster der Gelegenheit“ für einen Schritt nach vorne öffnete. Dennoch glaube ich nicht, dass es einen totalen Krieg geben wird, höchstwahrscheinlich eine Eskalation im Donbas oder einen kleinen Angriff, um zu sehen, wie der Westen darauf reagiert. Gäbe es dann doch keine Antwort, könnte Russland weiterziehen.
Der Informationskrieg mag einer der Versuche Russlands sein, um den Westen einzuschüchtern und den Eindruck zu erwecken, Moskau habe diesmal wirklich ernsthafte Absichten. Dies ist eine Art Stimulierung für die USA, mit Russland an einem Tisch zu sitzen. Aber wenn die Russen ernsthaft über eine Militäroperation nachdenken, brauchen sie einen Vorwand, nicht unbedingt für sich selbst, aber für diejenigen im Westen, die ständig nach Argumente suchen, um alles was Russland treibt, einfach zu übersehen. All dies dient dazu, damit nur diejenigen bleiben, die die russische Aggression rechtfertigen und gleichzeitig behaupten, Russland sei dazu gezwungen gewesen bzw. provoziert worden.