Worauf weist der Anstieg der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze hin? Wie wird der Krieg aussehen, wenn er passiert? Was steckt hinter der polnischen Grenzkrise und wie bereitet sich der Westen, der Ukraine zu helfen? Kann die EU die Ukraine angesichts einer eskalierenden Energiekrise unterstützen? Die Zeitschrift „Brussels Ukraine Review“ stellte diese sehr schwierigen Fragen den Europaabgeordneten, Politikern der Ukraine und Weißrusslands sowie westlichen und ukrainischen Experten.
Aljaksandr Milinkewitsch, Kanzler der Weißrussischen Freien Universität, gemeinsamer Präsidentschaftskandidat von der vereinten Opposition im Jahr 2006, Gewinner des Sacharow-Preises „Für geistige Freiheit“ des Europäischen Parlaments
Russland tut alles, um die Ukraine zu destabilisieren und sich als unvermeidlicher Hegemon in der Europa- und Weltpolitik durchzusetzen. Das neue Säbelrasseln ist bloß ein Versuch, Druck auszuüben und auf die eigene Agenda aufmerksam zu machen. Der Energie- und Militärbereich sind die wichtigsten Instrumente des russischen Einflusses auf die Außenwelt. Mit der Erhöhung des Einsatzes versucht Russland zudem, jegliche positiven Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine sowie zwischen der NATO und der Ukraine zu blockieren.
Die Ukraine ist offensichtlich dafür bereit, sowohl moralisch als auch militärisch. Das Schlimmstfall-Szenario kann nicht ausgeschlossen werden. Die Bereitschaft des kollektiven Westens, für beispielweise Charkiw zu sterben, ist nicht gegeben. Deshalb kann es sich Russland leisten, hoch zu pokern, um Zugeständnisse im nichtmilitärischen Bereich zu erhalten, wie z.B. die endgültige Inbetriebnahme von Nord Stream 2 und Anderes. Der Westen erweckt den Eindruck, unkonsolidiert und mit internen Problemen beschäftigt zu sein.
Die Europäische Union spricht viel über ihre strategische Autonomie. Die Politik der EU gegenüber Russland und der Ukraine zeigt jedoch ihre Schwäche und Widersprüchlichkeit. Restriktive Maßnahmen gegen Russland als Antwort auf die Annexion der Krym und die Besetzung des Ostens der Ukraine waren nicht ausreichend. Deutschland als führendes Land in der EU handelt manchmal zum Nachteil der gemeinsamen Politik. Die EU kann die Sicherheit der Ukraine nicht garantieren. Der Westen missversteht immer noch die Denkweise des Kremls, der ausschließlich Stärke, Kompromisse und Diplomatie respektiert.
In Bezug auf die Energiesituation, glaube ich, dass sich die ukrainische Führung der Unterstützung bewusst ist, auf die sie zählen kann. Es ist unwahrscheinlich, dass die EU als solche bereit ist, eine umfassende Energiekrise zu bewältigen.
Roman Lozynskyi, Volksabgeordneter der Ukraine
Zuallererst muss man verstehen, dass russische Truppen sich immer in abwechselnder Anzahl im Osten der Ukraine befinden. Die Information, dass sich die Truppenzahl erhöht, kann entweder das Erkundungsergebnis der ukrainischen Spezialeinsatzkräfte oder die der Partner, oder aber manchmal auch eine gezielte Provokation seitens Russland sein, um dessen Verhandlungsposition zu stärken. Dies geschieht oft vor hochrangigen internationalen Treffen oder wichtigen Beschlussfassungen.
Jetzt geht es um Nord Stream 2. Die Verhandlungsposition der USA, die Deutschland auffordert, die Pipeline als Waffe des Aggressors, nicht als ein wirtschaftliches Instrument, zu betrachten und deshalb nicht zu zertifizieren, ist im Endeffekt einer der Gründe für die Aufstockung russischer Truppen an der ukrainischen Grenze. Wir können die wahren Pläne Putins nie wirklich erfahren, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Russland jederzeit großangelegt angreifen kann.
Anhand der Gespräche mit unseren Militärangehörigen, die ich mehrmals pro Jahr im Osten besuche, verstehe ich, dass sie bereit sind: Sie haben Kampfgeist und Moral sowie moderne Waffen und Ausrüstung. Die russische Armee ist jedoch eine der mächtigsten weltweit. Seien wir also realistisch: Die Ukraine wird nicht alleine den Widerstand leisten können oder die Opferzahl wird sehr hoch sein. Daher ist man auf die Hilfe der Partner angewiesen. Einige haben bereits ihre Unterstützung, u.a. militärische, versichert, andere wiederum verwenden nur diplomatische Mittel.
Ich bin der Meinung, die EU hat keine Lehren gezogen, sie reagiert immer situationsbedingt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt gibt es reges Interesse, heute ist es Nord Stream 2. Es gibt auch wirtschaftliche Interessen der Mitgliedsstaaten, die heimlich besprochen werden von denen wir nichts wissen. Ich würde also nicht erwarten, dass man aus der Vergangenheit etwas lernen kann. Die russische Annexion von Teilen Georgiens – zuerst Abchasien und im 2008 Südossetien – hat nichts zum Verständnis der späteren russischen Aggression 2013-2014 beigetragen. Daher soll man nicht die Lehren der Geschichte abwarten, sondern selbst eine starke Position aufbauen.
Apropos Energiekrise, sind weder die Ukraine noch Europa dazu bereit. Schließlich ist die Energiekrise in der Ukraine zuallererst eine Krise der Versorgungskosten, steigender Preise, was folglich zur Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung führt. Schließlich bewirkt eine Erhöhung der Kommunalkosten die Frustration gegenüber der eigenen Regierung, was letzten Endes die allgemeine Situation überall destabilisiert.